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Landeszeitung Lüneburg: Völkerrechtler Prof. Luchterhandt zum russisch-ukrainischen Gas-Konflikt: Imperialer Kurs als einzige Konstante

Geschrieben am 01-01-2009

Lüneburg (ots) - Moskau dreht der Ukraine den Gashahn zu, Putin
verkündet das Ende des "billigen Erdgases", Medwedew startet ein
milliardenschweres Aufrüstungsprogramm. Die Schuld für die
Finanzkrise, die Russland stärker als andere Nationen beutelt, sieht
der Kreml in den USA. Europa muss seine politische Kultur
exportieren, wenn Russland ein verlässlicher Partner werden soll,
meint der renommierte Hamburger Völkerrechtler Prof. Luchterhandt.

Nirgends stürzten die Aktienkurse so stark ab wie in Russland. Das
Land wurde als erstes G-8-Mitglied in der Kreditwürdigkeit
herabgestuft. Erhält Putin jetzt die Lektion, dass der Rechtsstaat
kein Luxus, sondern Geschäftsgrundlage der Stabilität ist?

Prof. Otto Luchterhandt: Eine solche Sicht der Dinge wäre eine
Überinterpretation. Die besonders starken Auswirkungen der Finanz-
und Wirtschaftskrise gründen darin, dass Russland noch immer über
eine Transformationsökonomie, also noch nicht über eine voll
entwickelte Marktwirtschaft verfügt. Insbesondere das Finanzsystem
steckt -- nach europäischen Standards -- noch in den Kinderschuhen.
In Russland gibt es zu viele Banken ohne ausreichende Kapitaldecke
und Reputation. Die Krise wirkt bereinigend, die Zentralbank nimmt
viele illiquide gewordene Finanzinstitute vom Markt. Aber es gibt
noch ein sehr ernstes, mit der Rechtsstaatsschwäche verbundenes
Prob"lem: das ist das Misstrauen der Bürger gegenüber den ungewohnten
Institutionen des Kapitalismus und das Misstrauen des Staates
gegenüber seinen Bürgern. Diese wechselseitige Reserviertheit ist
eine schlechte Basis für die Bewältigung der Krise.

Wandelt sich dieses Misstrauen der Bürger in sozialen Sprengstoff
um oder üben sich die Russen in Gleichmut?

Prof. Luchterhandt: Gleichmütig reagieren die Russen nicht, aber
die Krise ist noch nicht in vollem Umfang in das öffentliche
Bewusstsein gedrungen. Die Ausnahme ist der Mittelstand -- diese noch
ziemlich dünne, aber wachsende Schicht, die bereits 1998 beim
Rubel-Crash einen Großteil der Ersparnisse eingebüßt hatte. Zwar
erholte sich der Mittelstand in der ersten Amtszeit Putins, den
Jahren des vom Gasexport befeuerten Booms. Nun ist der Staat
gefordert, diese für die Entwicklung Russlands strategisch wichtige
Schicht zu schützen. Doch oft geht es nicht über Lippenbekenntnisse
hinaus. So weigerte sich Putin trotz Protesten insbesondere in der
Region um Wladiwostok, die Importsteuer für ausländische Autos zu
kippen. Diese verteuert vor allem japanische Wagen, von deren Import
in Fernost viele leben und die Statussymbole der Mittelschicht sind.
Die Luxuskarossen ausgerechnet der unpopulären "Oligarchen"
unterliegen vergleichbaren Importrestriktionen dagegen nicht. Das
schürt ebenso Konfliktpotenzial wie der massive Rückgang des
Wohnungsbaus infolge der he"reingebrochenen Finanz- und
Immobilienkrise und die an Unterfinanzierung und Korruption leidenden
Bereiche Gesundheit und Bildung . Infolgedessen haben sich auch die
ohnehin starken Spannungen zwischen russischen Arbeitnehmern und
"Gastarbeitern" -- ein deutsches Lehnwort, das Eingang in die
russische Sprache fand --, also Arbeitsmigranten vor allem aus den
mittelasiatischen Staaten, gefährlich erhöht.

Rechtsstaatlichen Verhältnissen wollte sich der Kreml über die
Bekämpfung der Korruption annähern. Mit Erfolg?

Prof. Luchterhandt: Nein. Und die Erfolgsaussichten dieser von
Präsident Medwedew nach seinem Amtsantritt gestarteten Initiative
sind sehr gering. Er hat sicher den ehrlichen Willen und das
Fachwissen -- er unterrichtete lange Zivilrecht an der Juristischen
Fakultät der Universität Petersburg --, aber die historischen
Hypotheken sind zu groß. Der Sumpf, den es trockenzulegen gilt, ist
einfach zu gigantisch. Zwar hat Medwedew ein Gesetzespaket vorgelegt,
das systemisch ansetzt, also Gegenmaßnahmen im Staatsdienst,
Steuerrecht, Zollwesen, bei der Entlohnung und natürlich im Straf-
und Ordnungswidrigkeitsrecht usw. vorsieht. Aber die Komplexität des
Phänomens einer seit Jahrhunderten verwurzelten Korruption wie auch
das strukturelle Handicap fehlender Gewaltenteilung machen selbst
einen mittelfristigen Erfolg eher unwahrscheinlich. Putin hat die
unter Jelzin entstandenen Elemente von Pluralismus --
regierungsunabhängige Presseorgane und Fernsehprogramme, eine die
Regierung kontrollierende Staatsduma, einen von den Regionen
beherrschten, selbstbewussten Föderationsrat -- beseitigt oder
marginalisiert. Im Ergebnis herrscht eine allmächtig gewordene
Exekutive, der Beamtenapparat. Wenn Bürokraten aber die Korruption
bekämpfen sollen, wird der Bock zum Gärtner gemacht. Das hat noch nie
funktioniert. Schließlich bilden sie das Prob"lem, nicht dessen
Lösung. Korruption wird in Russland solange den Alltag beherrschen,
bis der Rechtsstaat über eine funktionierende Gewaltenteilung eine
neue Chance bekommt und durch eine erstarkende Zivilgesellschaft
sozial unterfüttert wird .

Welche Chance auf eine Zivilisierung hat Russland, wenn Justiz und
Presse von der Exekutive an die Wand gedrückt werden?

Prof. Luchterhandt: Die Perspektiven für eine rechtsstaatliche
Entwicklung Russlands haben sich während der zweiten Amtszeit Putins
dramatisch verschlechtert -- und unter Medwedew nicht verbessert.
Unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise ist der Kreml bestrebt,
die Grundlagen des unter Putin geschaffenen, staatskapitalistischen
Systems zu bewahren, also den strategischen Einfluss des Staates in
der Wirtschaft zu sichern. Davon profitieren vor allem die
Staatsunternehmen und die mit ihnen verfilzten Oligarchen. Für die
strategische Ressource einer funktionierenden Marktwirtschaft, den
Mittelstand, fehlt, das zeigt derzeit Putins Krisenmanagement, das
Geld. Entwi"ckelt Russland aber keinen sich selbst tragenden
Mittelstand, wird es kein vollwertiges G-8-Mitglied werden,
geschweige denn bis 2020 zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht aufrücken,
wie es Putin als Ziel ausgegeben hat. Bisher ist es Russland nicht
gelungen, die Drittwelt-Struktur seiner Wirtschaft, eines
rohstoffproduzierenden Staates, abzulegen und das produzierende
Gewerbe zu stärken. Im Gegenteil: Seit Beginn der Krise tendiert das
Wachstum indus"trieller Fertigprodukte gegen Null.

Trotz Finanzkrise kündigte Medwedew ein üppiges Rüs"tungsprogramm
an. Konnte Russland seine Abhängigkeit von der Schwerindustrie immer
noch nicht verringern?

Prof. Luchterhandt: Ja, hierbei muss man berücksichtigen, dass die
Rüstungspolitik aufs engste mit der Außenpolitik verbunden ist. So
knüpft Russland in Lateinamerika an alte sowjetische Kontakte an. Die
Beziehungen zu Kuba und Nicaragua werden intensiviert, ebenso die zu
Venezuela und Bolivien, die beides wichtige Gas-Produzenten sind.
Außenpolitik ist für den Kreml auch Rüstungsexportpolitik. Zu den
Waffenkäufern zählen auch Nationen wie Algerien, Libyen und der Iran,
alles Staaten, die Mitglieder der Gas-OPEC sind, die am 23. Dezember
gegründet worden ist. Hier bündeln sich die Interessen des
Militärisch-Industriellen-Komplexes.

Putin drohte an, dass die Ära des billigen Gases vorbei sei. Wird
Gas die neue strategische Waffe Russlands?

Prof. Luchterhandt: Wohl kaum. Dazu unterscheidet sich der
Gas-Markt strukturell zu sehr vom Erdöl-Markt. Während letzterer von
Angebot und Nachfrage geprägt wird, sind das Hauptkennzeichen des
Gas-Marktes langfristige, bis zu 20 Jahre währende, bilaterale
Lieferverträge. So gilt Deutschland einigen Experten aufgrund seiner
Verträge mit Gazprom im Bereich Erdgas als strategisch gesichert.
Knappheit drohte nur, wenn die Verträge einseitig aufgekündigt
würden, wofür im Moment nichts spricht. Zudem ist der Erdgas-Preis
mittelbar an den Ölpreis gekoppelt. Diese Verknüpfung deutet
angesichts fallender Ölpreise im Moment nicht auf die Gefahr
explodierender Gas-Preise hin.

Die langfristigen Lieferverträge gründen sich auf den
physikalischen Eigenschaften von Gas, für dessen Transport Pipelines
nötig sind. Gibt es Bestrebungen in der Gas-OPEC, den Anteil des
Flüssiggases zu erhöhen, das mittels Tankern frei auf dem Weltmarkt
verkauft werden kann?

Prof. Luchterhandt: Ja. Im Mai 2007 formulierten die
Gas-Exportländer in Doha/Katar das Ziel, den Anteil des Flüssiggases
am Export von jetzt einem Viertel deutlich zu erhöhen. Einer
stärkeren Koordinierung dieser neuen Allianz steht allerdings die
extreme Heterogenität ihrer Mitgliedsländer entgegen. Aber die Gefahr
einer künftigen möglichen Erpressbarkeit hängt auch von den
Verbraucherländern ab. Erzwingt der Klimawandel eine Energiewende,
verringert sich unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen
drastisch.

Noch vor Amtsantritt Oba"mas rasselt der Kreml mit dem Säbel.
Warum ist der geplante Raketenschutzschild ein solcher Stachel im
Fleische des russischen Bären?

Prof. Luchterhandt: Das ist in der Tat rätselhaft, weil selbst
russische Militärs einräumen, dass von der geplanten Stationierung
von Abfangraketen in Polen für Russland keine Gefahr ausgehe. Die
geplante Aufstellung von Raketen im Kaliningrader Gebiet muss wohl
vor allem als außenpolitisches Warnsignal gewertet werden, nicht mehr
dem Kurs der Bush-Administration zu folgen und auf russische
Befindlichkeiten wirklich Rücksicht zu nehmen. Anders verfuhren die
USA aber bekanntlich im Falle der Anerkennung des Kosovo, bei ihrem
Kurs der NATO-Ausdehnung auf den Raum der GUS, bei der Stationierung
eigener Truppen in Mittelasien oder beim Bau von Erdölpipelines durch
den Südkaukasus zum Kaspischen Meer unter Umgehung russischen
Gebietes.

Würde eine geschmeidigere Rhetorik Obamas den Kreml wirklich
beruhigen oder plant dieser ein "Roll back" des
NATO-Einflusses in seinem Hinterhof?

Prof. Luchterhandt: Hier befinden sich sowohl Russland als auch
die USA in einem Dilemma. Die Amerikaner haben eine langfristig
angelegte Außenpolitik, zu deren Konstanten die Isolierung Irans, die
Sicherung Israels und die Stärkung der US-Position in Zentralasien
zählen. Mit dieser Agenda wird Washington nicht auf Georgien
verzichten wollen, als strategisch wichtiges Durchgangsland für
Pipelines vom Kaspischen Meer nach Europa. Und das bringt die USA in
einen unvermeidlichen Interessenkonflikt mit Russland, das auf die
Respektierung seiner Einflusssphäre pocht. Insbesondere der
Südkaukausus ist von fundamentaler Bedeutung, weil der russische
Nordkaukasus immer instabiler wird. Moskau hat die historische
Erfahrung nicht vergessen, dass bei Schwächephasen im Zentrum die
Peripherie seiner Kontrolle entgleitet. Und in diesem Fall ist die
NATO an den Grenzen eine ernsthafte Bedrohung für den Zusammenhalt
des Landes, nämlich als eine Alternative, der sich die Völker der
Peripherie anschließen können. Auch Russland denkt langfristig. Und
die einzige Konstante seiner Politik ist seit Peter dem Großen die
imperiale Tradition.

Gibt es für den Westen unter diesen Bedingungen eine Chance, das
zarte Pflänzchen Rechtsstaatlichkeit in Russland zu hegen?

Prof. Luchterhandt: Unmittelbar kann der Westen gar nichts tun.
Langfristig muss er für eine stärkere Präsenz europäischer Kultur,
auch politischer Kultur, in Russland sorgen. Das Bewusstsein dafür
muss vermittelt und gestärkt werden, dass Konflikte nicht mit Gewalt,
sondern rechtsstaatlich durch stabile Institutionen und geregelte
Verfahren zu lösen sind. Das würde vor allem auch dem Mittelstand
nützen. Diese Keimzelle einer zivilisierteren Gesellschaft muss
gestärkt werden. Gelingt dies nicht, bleibt Russland für Europa ein
sehr schwieriger Partner.

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
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Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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