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Rüge für heroische Pose eines Amoktäters Presserat behandelt Vielzahl von Beschwerden zu Winnenden

Geschrieben am 20-05-2009

Bonn (ots) - Die beiden Beschwerdeausschüsse des Deutschen
Presserats tagten am 19. und 20.5.2009 in Bonn. Schwerpunkt der
Arbeit war die Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden.

Winnenden
Mit 47 Beschwerden über "Winnenden" haben sich die beiden Ausschüsse
befasst und dabei insgesamt zwei öffentliche und eine
nicht-öffentliche Rüge ausgesprochen sowie fünf Missbilligungen und
fünf Hinweise. 19 Beschwerden waren unbegründet, neun wurden vertagt.
Viele der Beschwerden richteten sich gegen die gleichen Artikel, so
dass die Zahl der Maßnahmen nicht identisch ist mit der Zahl der
Beschwerden insgesamt.

Der Beschwerdeausschuss spricht eine nicht-öffentliche Rüge gegen
BILD-Online aus. Die Zeitung hatte auf ihrer Internetseite in einem
Beitrag unter der Überschrift "Diese jungen Leben hat er ausgelöscht"
die vollen Vor- und Nachnamen mehrerer Opfer genannt. Der Ausschuss
erkennt hierin einen Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte der
Betroffenen und Hinterbliebenen. Hierdurch seien nach Meinung des
Ausschusses die Opfer auch im erweiterten Umfeld erkennbar
dargestellt. Richtlinie 8.1 des Pressekodex fordert:

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten,
Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des
Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine
Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern
und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft
genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist
zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem
Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse
allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht
begründen.

Eine öffentliche Rüge erhält die BILD-Zeitung für ihre mehrseitige
Berichterstattung unter den Überschriften "Seid ihr immer noch nicht
tot?" sowie "Wie wurde so ein netter Junge zum Amokschützen?" wegen
Verstößen gegen die Ziffern 11 und 8 des Pressekodex. Ein
ganzseitiges Bild zeigt den Amokläufer mit gezogener Waffe in einem
Kampfanzug. Diese Fotomontage verbunden mit der Überschrift "Seid ihr
immer noch nicht tot?" ist nach Ansicht des Ausschusses unangemessen
sensationell. Sie stellt den Amoktäter in einer Heldenpose dar.
Unangemessen sensationell bewertet der Ausschuss auch die Grafik, die
eine Situation in einem Klassenzimmer darstellen soll. Die Redaktion
zeichnet hier nach, wie der Amokläufer - wieder als Fotomontage im
Kampfanzug - eine Lehrerin erschießt. Diese Darstellung der Tötung,
gezeigt durch das Nach-Hinten-Überkippen der Lehrerin, hält der
Ausschuss mit Blick auf die Hinterbliebenen der Getöteten für eine
unangemessen sensationelle Darstellung.

Richtlinie 11.1 - Unangemessene Darstellung
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der
Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel,
herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über
einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in
einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse
der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.
Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und
Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen
Wirkungen auf Kinder und Jugendliche.

Der Ausschuss sieht in der Abbildung dreier Fotos zur
Berichterstattung zudem die Persönlichkeitsrechte von Opfern und
Betroffenen verletzt. So hebt die Redaktion zu einem Beitrag über die
Schießerei in Wendlingen ein Porträtbild eines einzelnen Opfers
hervor. Dies ist nicht durch ein öffentliches Interesse
gerechtfertigt, wertet der Ausschuss. Außerdem wird in der
Berichterstattung ein identifizierbares Foto einer Jugendlichen
gezeigt, die gerade von einer Betreuerin getröstet wird. Hier sieht
der Presserat die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzt.
Dies gilt auch für die Abbildung von mehreren Schülern einer
benachbarten Schule, die im Moment der Betroffenheit erkennbar durch
eine Scheibe fotografiert wurden.

Die Grafik mit der Szene im Klassenzimmer erschien nicht nur in
der Print-, sondern auch in der Online-Ausgabe der Zeitung. Der
Presserat spricht deshalb gegenüber BILD-Online aus den gleichen
Gründen eine öffentliche Rüge wegen einer unangemessen sensationellen
Darstellung von Gewalt, Leid und Brutalität aus.

Persönlichkeitsrechte und Sorgfaltspflichten
Das Persönlichkeitsrecht eines Mannes, der gestanden hatte, ein
achtjähriges Mädchen getötet zu haben, hat die SÄCHSISCHE ZEITUNG mit
zwei Beiträgen in der Print- und der Online-Ausgabe verletzt. Die
Zeitung hatte den vollen Namen und ein Foto des Mannes veröffentlicht
und damit gegen Ziffer 8, Richtlinie 8.1 verstoßen. Ein
Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Identifizierung des
Mannes, das dessen Persönlichkeitsrecht überlagert hätte, erkennt der
Beschwerdeausschuss nicht. Der Beschwerdeausschuss spricht deshalb
eine nicht-öffentliche Rüge aus.

Wegen eines Verstoßes gegen die Ziffern 8 und 13 erhält die
BILD-Zeitung eine nicht-öffentliche Rüge für ihre Berichterstattung
über einen Mordprozess. Die Zeitung berichtet, dass ein Mann seine
schwangere Freundin erwürgt habe. Dem Beitrag sind Bilder des Opfers
und des Angeklagten beigestellt. Die Veröffentlichung verstößt wegen
der Identifizierbarkeit gegen die Persönlichkeitsrechte. Im Beitrag
heißt es ferner über den Täter: " [...] doch er ist ein eiskalter
Killer". Der Ausschuss sieht in dieser Bezeichnung eine
vorverurteilende Berichterstattung, die der Unschuldsvermutung
widerspricht. Der Mann habe zwar zugegeben, seine Freundin getötet zu
haben. Die Zeitung unterstelle mit der Formulierung jedoch einen
Vorsatz, der zu diesem Zeitpunkt nicht gerichtlich bewiesen war.

Ziffer 13 - Unschuldsvermutung
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und
sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der
Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.

Die TAZ erhält eine nicht-öffentliche Rüge wegen eines Verstoßes
gegen die Ziffern 2 und 8 des Pressekodex für ihre Berichterstattung
über einen Sorgerechtsstreit. Eine Mutter hatte ihr Kind nach
Konflikten mit deutschen Behörden ins Ausland entführen lassen. Der
Ausschuss hält die Berichterstattung für einseitig, denn der Vater
des Kindes war zu den Vorwürfen nicht befragt worden. Dies hätte die
journalistische Sorgfaltspflicht geboten. Zudem ist der Vater in dem
Beitrag identifizierend dargestellt, ebenso macht die Redaktion
identifizierende Angaben über die Familie. Dies wertet der Ausschuss
als einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte.

Ziffer 2 - Sorgfalt
Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt.
Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik
sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren
Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn
darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder
entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte
und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.

Der Ausschuss erteilt der BILD-Zeitung eine öffentliche Rüge für
ihre Berichterstattung über einen vermuteten Straftäter an einem
Gymnasium. Die BILD-Zeitung zitiert in dem Beitrag die Schulleiterin.
Diese hatte aber nie persönlich mit der Redaktion gesprochen. Die
Redaktion übernahm wörtliche Aussagen von ihr aus einer regionalen
Tageszeitung, ohne diese Quelle zu kennzeichnen. Der Ausschuss
erkennt hierin einen Verstoß gegen die journalistische
Sorgfaltspflicht.

Trennungsgebot
Eine Rüge wegen Verletzung des Grundsatzes der klaren Trennung von
Redaktion und Werbung erhält das Magazin IN. Die Zeitschrift hatte
unter dem Titel "Beauty Talk" ein Interview mit Verona Pooth geführt.
In dem Gespräch schwärmte diese von einer neuen Kosmetikserie, die
sie selbst auf den Markt gebracht hatte. Beigestellt war dem
Interview ein Kasten, in dem die Produkte abgebildet und mit
Preisangaben vorgestellt wurden. Zudem enthielten beide
Veröffentlichungen einen Hinweis auf die Bezugsquelle der Kosmetika.
In dieser Gesamtdarstellung sieht der Beschwerdeausschuss
Schleichwerbung nach Ziffer 7, Richtlinie 7.2 des Pressekodex.

Richtlinie 7.2 - Schleichwerbung
Redaktionelle Veröffentlichungen, die auf Unternehmen, ihre
Erzeugnisse, Leistungen oder Veranstaltungen hinweisen, dürfen nicht
die Grenze zur Schleichwerbung überschreiten. Eine Überschreitung
liegt insbesondere nahe, wenn die Veröffentlichung über ein
begründetes öffentliches Interesse oder das Informationsinteresse der
Leser hinausgeht oder von dritter Seite bezahlt bzw. durch geldwerte
Vorteile belohnt wird. Die Glaubwürdigkeit der Presse als
Informationsquelle gebietet besondere Sorgfalt beim Umgang mit
PR-Material.

Ebenfalls wegen Schleichwerbung werden die Zeitschrift MYSELF und
die Programmbeilage PRISMA gerügt. MYSELF hatte über
Frisuren-Stylings berichtet und dabei auf zwei Pflegemittel mit
Abbildungen und Preisangaben hingewiesen. Für diese Heraushebung
konkreter Produkte aus einer Palette ähnlicher Mittel sieht der
Beschwerdeausschuss keinen redaktionellen Anlass. Die Grenze zur
Schleichwerbung wurde überschritten.

PRISMA hatte ein Interview mit einem "Experten für
Pflanzenheilkunde" veröffentlicht. In einer seiner Antworten wies
dieser auf ein bestimmtes Präparat und eine Website hin. Auch auf
dieser Website wurde der Interviewte als "Experte" vorgestellt.
Gleichzeitig bestand die Möglichkeit, das von ihm erwähnte Produkt
direkt zu bestellen. Auch hierin erkennt der Beschwerdeausschuss
Schleichwerbung, da der "Experte" in einem redaktionellen Beitrag die
Gelegenheit bekam, ein von ihm empfohlenes Produkt und die
Bezugsquelle zu nennen.

Statistik
Insgesamt wurden in den zwei Beschwerdeausschüssen 129 Beschwerden
behandelt. Dabei wurden neben den sechs öffentlichen Rügen noch fünf
nicht-öffentliche Rügen ausgesprochen. Zudem gab es 23
Missbilligungen und 18 Hinweise. In 50 Fällen wurden die Beschwerden
als unbegründet erachtet. In sechs Fällen wurde die Beschwerde als
begründet angesehen, auf eine Maßnahme wurde jedoch verzichtet. Eine
Beschwerde war nicht aufklärbar. In acht Fällen hatten sich mehrere
Beschwerdeführer gegen dieselbe Veröffentlichung beschwert, hier wird
das Ergebnis nur einmal gezählt.

Originaltext: Deutscher Presserat
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/14918
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_14918.rss2

Pressekontakt:
Deutscher Presserat
Edda Kremer und Ella Wassink
Tel.: 0228 - 985720
Fax: 0228 - 98572 - 99
E-Mail: info@presserat.de


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