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Landeszeitung Lüneburg: Vom "Schneeball Erde" zum Bioplaneten -- Paläontologe Prof. Seilacher über die Zwischenherrschaft der Dino-Einzeller

Geschrieben am 22-04-2010

Lüneburg (ots) - Prof. em. Dr. Adolf Seilacher (85) ist
emeritierter Professor für Paläontologie der Universität Tübingen.
Die Royal Swedish Academy of Science zeichnete ihn 1992 mit dem
Crafoord Preis aus, der für herausragende Leistungen in
Forschungsbereichen vergeben wird, die im Rahmen des Nobelpreises
nicht berücksichtigt werden. Insbesondere seine Forschungen zu
fossilen Spuren seit dem frühen Kambrium brachten ihm Weltruhm ein.

Entwickelte sich das Leben auf der Erde mehrmals?

Prof. Adolf Seilacher: Zu dieser Frage gibt es natürlich keine
direkten Belege. Da es sich aber um einen sehr komplizierten und
entsprechend seltenen Vorgang handelt, ist einmalige Entstehung
irdischen Lebens wahrscheinlicher. Einmal da, hat es sich aber wie
ein Buschfeuer ausgebreitet. Dadurch wurde unsere Erde zum
Bioplaneten. Interessant ist allerdings die lange Anlaufzeit der
Evolution. Das erste Leben entwickelte sich schon vor etwa 3,4
Milliarden Jahren. Doch erst vor 600 Millionen Jahren, in der letzten
Phase des Präkambriums entstanden komplexe Großorganismen,
einschließlich der ersten vielzelligen Tiere.

Sind nicht die Spuren eines Wurmes, die Sie in Nordindien fanden,
1,1 Milliarden Jahre alt?

Prof. Seilacher: Nein, denn was ich 1998 als Wurmspuren deutete,
weil zunächst keine andere denkbare Erklärung vorhanden war,
entpuppte sich in diesem Januar als Pseudofossilien -- also als
Formen im Sediment, die fossilisierten Spuren ähneln, aber durch
physikalische Prozesse entstanden sind. Zudem haben neue
radiometrische Verfahren das Alter der entsprechenden Gesteinsschicht
sogar auf 1,5 Milliarden Jahre angehoben. Und zu dieser Zeit waren
hochkomplexe Organismen wie Würmer undenkbar. Die ersten größeren
Organismen treten erst nach einem einschneidenden Ereignis auf, das
man "Schneeball-Erde" nennt. In dieser Super-Eiszeit waren sogar die
Ozeane eingefroren. Erst nach diesem gewaltigen Einschnitt traten
Großorganismen auf. Und die waren bizarr: Denn nach meiner -- nicht
ganz unangefochtenen -- Erklärung waren diese ersten Großorganismen,
die die dominierenden Wesen ihrer Epoche waren, riesige Einzeller --
sozusagen "Dino-Einzeller". Offenbar gibt es ein physiologisches
Größenlimit für Einzeller: Eine schneeballgroße Zelle wäre
lebensunfähig. Diese Grenze umgingen die Dino-Einzeller, indem das
Protoplasma in langgestreckte Kammern aufgeteilt wurde. So konnten
sie Körper von bis zu einem Meter Länge erreichen.

Daher rührte das Luftmatratzen-Aussehen der Ediacara-Wesen?

Prof. Seilacher: Genau. Zum Glück gibt es ein modernes, wenn auch
nicht verwandtes Gegenstück, die Xenophyophoren von immerhin 25
Zentimeter Länge. Diese bauen Sand und Schalen in ihre Kammerwände
ein. Sie nehmen außerdem ebenfalls Sedimentkörner auf, um die sie
umgebenen Bakterien zu fressen. Statt die Körner wieder
auszuscheiden, benutzen sie sie, um ein Innenskelett aufzubauen,
dessen Poren den zulässigen Durchmesser haben. Die Foraminiferen
bauen die kalkhaltige Hülle um ihr Protoplasma ebenfalls in
Kämmerchen auf. Das gleiche Prinzip, aber in einem viel kleineren
Maßstab.

Deutet die Universalität dieses Bauprinzips an, dass die
Ediacara-Organismen zu unseren Vorfahren zählen oder endeten sie in
einer Sackgasse?

Prof. Seilacher: Die dominierenden Wesen der Ediacara-Zeit zählen
nicht zu unseren Vorfahren. Sie schlugen einen anderen Weg zum
Größenwachstum ein als den der Vielzelligkeit. Die Vielzeller
erfanden das Teilen der Zellen, analog zur Kammerunterteilung bei
diesen riesigen Einzellern. Die Ediacara-Organismen, die ich
Vendobionten getauft habe, blieben zwar mit ein paar Millimetern
blattartig dünn, wurden aber bis zu einem Meter groß.

Lebten die Vendobionten allein auf der Welt oder existierten in
einer ökologischen Nische Mehrzeller -- wie viel später Säugetiere im
Schatten der Dinosaurier?

Prof. Seilacher: Letzteres ist das Modell im Präkambrium: Es gab
viele Formen von Vielzellern im Ediacarium. In erster Linie zu nennen
wäre da ein molluskenartiges Wesen, das noch keine Schale hatte --
Kimberella. Damals blieben auch Abdrücke von Weichtieren erhalten,
quasi "bakterielle Totenmasken" durch eine zähe, bakterielle
Schleimschicht am Meeresboden -- ähnlich dem Schleim, der sich heute
in stehenden Tümpeln bilden kann. Zum Teil blieben sogar die
Weidespuren von Kimberella erhalten. Sie belegen, dass das Wesen über
eine Reibezunge verfügte wie heutige Mollusken. Die fächerartige
Ausdehnung der Reibespuren zeigt, dass sich Kimberella beim Abweiden
nicht fortbewegte, sondern stationär blieb und sich über einen
rüsselartigen Fortsatz mit dem Mund und der Reibezunge an der Spitze
ernährte. Aber sie und andere Vielzeller blieben größenmäßig und nach
Individuenzahl im Schatten der einzelligen Riesen.

Waren Kimberella und die luftmatratzenförmigen Wesen
Nahrungskonkurrenten?

Prof. Seilacher: Erstaunlicherweise nicht. Die frühen Vielzeller
waren sehr klein im Vergleich zu den Einzellern und zudem längst
nicht so häufig. Die Fossilien der "Dinosaurier des Präkambriums"
zeigen nie Bissspuren, obwohl sie eine präsente und leicht zu
ergatternde Nahrung waren. Der ganze Kampf zwischen Raubtier und
Beute begann erst mit der kambrischen Explosion, also dem Auftauchen
zusätzlicher Tierstämme vor rund 540 Millionen Jahren.

Ist das Wettrüsten zwischen Jägern und Gejagten das Schwungrad der
Evolution?

Prof. Seilacher: Ganz bestimmt. Das Wettrüsten ist eine
Haupttriebfeder der Evolution. Die Geschwindigkeit der Veränderung
wurde dadurch erhöht.

Dann haben die ersten vielzelligen Jäger die paradiesischen,
aggressionsfreien Zustände des Präkambriums beendet?

Prof. Seilacher: Genau. Mein Kollege Mark McMenamin hat dafür den
wunderbaren Ausdruck geprägt: Der Garten von Ediacara. Das war noch
eine friedliche Welt.

Sind denn die ersten Störenfriede im Paradies schon identifiziert?

Prof. Seilacher: Das waren Gliederfüßler, krebsartige Tiere, die
auch über einen Meter groß wurden, und über Klauen und Kauwerkzeuge
verfügten. Angesichts einer solchen Bedrohung mussten die Beutetiere
für Schutz sorgen. Das waren einmal Schalen oder das Verhalten, sich
einzugraben -- das sogenannte Verdun-Syndrom. Dieses Eingraben
veränderte die gesamte Umwelt. Die Biomatte auf dem Meeresgrund wurde
durchlöchert und letztlich zerstört.

Welcher Selektionsdruck kann das Entstehen von Jägern begünstigt
haben?

Prof. Seilacher: Was der Anstoß war, wissen wir nicht. Aber wenn
es einmal angefangen hat, lässt sich das Wettrüsten nicht mehr
stoppen.

Gibt es noch Reste der Ediacara-Welt, die überdauert haben, etwa
in lebensfeindlichen Umgebungen am Meeresboden?

Prof. Seilacher: Das ist noch umstritten. Ich bin allerdings davon
überzeugt, dass die herrschenden Ediacara-Organismen am Ende des
Präkambriums ausstarben. Sie waren die ersten Opfer der neuen Räuber.

Sie schilderten, wie das Kammer-Prinzip Einzellern die Überwindung
ihres Größenlimits gestattet. Bietet die Ediacara-Fauna eine Ahnung
davon, wie Leben auf fremden Planeten aussehen könnte?

Prof. Seilacher: Sie haben völlig Recht. Das Leben im Präkambrium
wirkt wie Leben auf einem anderen Stern. Aber natürlich können wir
darüber nichts empirisch aussagen. Vielleicht bringt die Forschung
auf dem Mars noch Ergebnisse in diese Richtung.

Unterstreicht das Bizarre der Ediacara-Welt den Stellenwert des
Zufalls in der Evolution?

Prof. Seilacher: Der Zufall ist sicher die wesentliche Triebkraft.
Denn nur durch Zufall wird etwas "entdeckt". Ohne Zufall gibt es
keine Evolution.

Sind die heutigen Organismen alle Nachfahren der mit Klauen und
Panzern bewehrten Sieger der "kambrischen Explosion"?

Prof. Seilacher: Ja, aber genauer geht die Ahnenschaft zurück bis
zu den frühen Vielzellern, die schon im Schatten der Ediacara-Wesen
lebten. Etwa Kimberella, die zu den Urahnen heutiger Mollusken zählen
dürfte. Dazu gibt es Formen, die ein Kanalsystem aufweisen wie
heutige Schwämme. Diese sind ohnehin eine sehr primitive Gruppe. Dazu
gibt es Verwandte der Quallen und im späten Präkambrium echte Spuren
von Würmern. Alle diese Wesen kamen aber erst zum Zuge, als die
einzelligen Dinosaurier ausstarben.

Das Interview führte Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
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Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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