General-Anzeiger: Der "General-Anzeiger" Bonn zur Wahl des Bundespräsidenten
Geschrieben am 30-06-2010 |
Bonn (ots) - Protest-Wahl
Von Andreas Tyrock
Es sollte ein Aufbruchsignal für die Regierungskoalition sein, ein
Zeichen der Stärke und Geschlossenheit, ein Schritt aus der Krise.
Doch dann kam es ganz anders. Christian Wulff brauchte drei Anläufe,
um zum Bundespräsidenten gewählt zu werden. Dies ist eine schallende
Ohrfeige für Schwarz-Gelb und für Angela Merkel die bisher größte
Pleite ihrer Kanzlerschaft. Dass gerade die Wahl zum Staatsoberhaupt
der Bundesrepublik Deutschland zur Abrechnung genutzt wurde, gibt
einen Einblick, wie tief Ärger und Frust in den Regierungsparteien
sitzen. Der Vorgang spiegelt eindrucksvoll die Gemütslage in Union
und FDP wider. Andererseits hat es sicherlich auch Delegierte
gegeben, die die freie und geheime Wahl nutzten, um nach bestem
Wissen und Gewissen zu stimmen - ein demokratischer Vorgang im
klassischen Sinn. Joachim Gauck ist ein ehrenwerter, charismatischer
Mann mit einer bemerkenswerten Biographie. Seine Nominierung war ein
taktisch und strategisch brillanter Schachzug von Rot-Grün. Gauck
wurde nicht gewählt und gehört dennoch zu den Gewinnern des gestrigen
Tages. Christian Wulff startet mit einem Makel in seine Amtszeit -
nicht mehr und nicht weniger. Es liegt nun an ihm, auch jene zu
überzeugen, die ihm skeptisch gegenüber stehen. Wulff hatte von
Anfang an einen schweren Stand. Die vor allem mediale Reduzierung der
Kandidaten auf wenige Eigenschaften war zwar plakativ, blieb daher
aber auch oberflächlich: hier der Freiheitskämpfer, der
Stasi-Aufklärer, mutig und parteilos, dort der Berufspolitiker, der
Karrierist, glatt und profillos. Diese Einschätzung mag auf Gauck
zutreffen, Wulff wird sie nicht gerecht. Wulff wird ein überzeugender
Repräsentant der Bundesrepublik sein. Er wird eloquent und bürgernah
auftreten, er wird sich einmischen, und er wird die notwendigen
Akzente setzen. Gemeinsam mit Wulff zieht eine junge
Patchwork-Familie nach Berlin. Wulff wird die Chance nutzen, unsere
Gesellschaft aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, als es bei den
bisherigen Bundespräsidenten der Fall war. Auch Joachim Gauck wäre
ein guter Bundespräsident gewesen. Ein glücklicher Umstand, den man
bei aller Dramatik des gestrigen Tages hervorheben muss: Es traten
zwei respektable Kandidaten gegeneinander an. Für Bundeskanzlerin
Merkel und ihre Regierung dürfte es die letzte Warnung sein. Allemal
ist der Wahlverlauf eine deutliche Aufforderung an die
Regierungskoalition, die kleinkarierten und amateurhaften
Streitereien und Plänkeleien der vergangenen Monate endlich zu
beenden und der Verantwortung gegenüber einem Land mit großen
Herausforderungen gerecht zu werden. Sparpaket, Gesundheitsreform,
soziale Gerechtigkeit - es gibt wahrlich wichtigere Aufgaben, als
untereinander Profilneurosen auszuleben. Wenn sich die Koalition
nicht schnellstmöglich findet, ist ihr Bestand seit gestern
gefährdeter denn je. Klarheit brachte die Wahl mit Blick auf die
Linken. Maßgebliche Teile der Partei sind zu einer aufrichtigen
Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht in der Lage und nicht
bereit. Die DDR war ein Unrechtsstaat, in dem Machterhalt und
Ideologie weit über Menschenwürde und Freiheit standen. Die Linken
gestehen das weiterhin nicht ein. Sie verwehrten einem anerkannten
Bürgerrechtler und Stasi-Aufklärer mehrheitlich die Stimmen und
lieferten damit indirekt ihren Beitrag zur Wahl Christian Wulffs.
Auch dies war ein bemerkenswerter Vorgang an einem bemerkenswerten
Tag.
Originaltext: General-Anzeiger
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