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Börsen-Zeitung: Pierers Verantwortlichkeit, Leitartikel von Bernd Wittkowski zum Rücktritt Heinrich v. Pierers als Siemens-Aufsichtsratsvorsitzender

Geschrieben am 20-04-2007

Frankfurt (ots) - Wer einen Sumpf trockenlegen will, darf nicht
die Frösche beauftragen. Damit soll keineswegs unterstellt werden,
dass Heinrich v. Pierer durch eine aktive Rolle in die diversen
Korruptionsskandale des Siemens-Konzerns verstrickt wäre. Noch gilt
in Deutschland die Unschuldsvermutung, auch für Manager - mögen
manche Politiker, Gewerkschafter oder andere Meinungsmacher diesen
strafrechtlichen Grundsatz auch bisweilen nonchalant ignorieren. Aber
als oberster Aufklärer der auf seine Zeit als Vorstandschef
zurückgehenden mutmaßlichen schweren Verstöße gegen Gesetze und
interne Regeln war der Aufsichtsratsvorsitzende von Anfang an eine
Fehlbesetzung.

Pierers nun angekündigter Rücktritt, der an der Börse mit einer
Marktwertsteigerung von reichlich 3 Mrd. Euro begrüßt wurde (das
Erreichen der Renditeziele im abgelaufenen Quartal kann die
Investoren ja kaum noch groß überrascht haben), war überfällig. Der
Schritt lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als souveräne
Entscheidung eines Befangenen vermitteln, der die Aufklärung im
besten Sinne des Unternehmens Unbefangeneren überträgt. Er kommt beim
Publikum eher an als Abgang eines Getriebenen, der sich nach einem
quälend langen Prozess in sein Schicksal fügt. Oder was soll sich
seit dem vorigen Herbst, als die Schmiergeldzahlungen ruchbar wurden,
geändert haben, um den Rückzug heute zu begründen und damals nicht?
Wirklich aufgeklärt ist in diesem Wirtschaftskrimi noch gar nichts.
Es leuchtet auch nicht ein, warum der von Pierer angeführte Vorrang
seiner Pflicht gegenüber dem Unternehmen und dessen Beschäftigten vor
eigenen Interessen nicht schon vor einem halben Jahr bestanden haben
soll.

Also bessere Erkenntnis oder Einsicht? Zweifel sind erlaubt. "Eine
persönliche Verantwortlichkeit mit Blick auf die laufenden
Ermittlungen war nicht Grundlage meiner Entscheidung", erklärt
Pierer. Diese sophistische Delikatesse muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen. Klar: Bis dato gibt es keine Rechtfertigung dafür,
Wertberichtigungen an der persönlichen Integrität des
Ausnahmemanagers vorzunehmen. Ebenso wenig sind per heute
Abschreibungen an seinen einzigartigen Verdiensten um den
Technologiekonzern zulässig. Und man darf durchaus einen gewissen
Goodwill dafür gewähren, dass dieser glanzlose Abschluss einer
großartigen beruflichen Lebensleistung menschlich eine Tragödie
bedeutet.

Aber soll etwa ein Vorstandschef nicht persönlich verantwortlich
sein, wenn in dem von ihm geführten Unternehmen bis in hohe
Leitungsebenen ein monströses System schwarzer Kassen betrieben wird
und dubiose Beraterhonorare in Millionenhöhe ohne adäquate
Gegenleistung gezahlt werden? Niemand erwartet von einem
Unternehmensführer, dass er höchstpersönlich in den Kerker geht, wenn
ein Untergebener silberne Löffel klaut und rechtskräftig verurteilt
wird. Aber selbstverständlich haben der Vorstand und sein
Vorsitzender zu verantworten, was in einer Aktiengesellschaft
geschieht - nicht zuletzt moralisch. Und diese Verantwortlichkeit,
die sich aus der vom Mandat bestimmten Verantwortung ableitet, gilt
nicht allein für das, was der Vorstand und sein Vorsitzender wissen.
Sie gilt auch für das, was sie nicht wissen, aber besser wissen
sollten und was sie hoffentlich nicht nur deshalb nicht wissen, weil
sie es nicht wissen wollen. Dass Schmiergeldzahlungen "vielen im
Hause Siemens bekannt" waren, ist gerichtsnotorisch. Darüber, dass
der Konzernchef davon nichts mitbekommen hat, darf man sich zumindest
wundern. Dass frühere Bemühungen im Kampf gegen die Korruption unter
seiner Ägide nicht nachhaltig erfolgreich waren, hat Pierer immerhin
schon früher eingeräumt. Auch das kein Thema der persönlichen
Verantwortlichkeit?

Dass Siemens nun, wie erhofft, schnell aus den negativen
Schlagzeilen herauskommt, ist ein frommer Wunsch. Vorstandschef Klaus
Kleinfeld selbst hat kürzlich angedroht, dass "weitere neue Sachen
aufkommen" werden - der Mann hat Realitätssinn. So kann auch der
künftige Aufsichtsratsvorsitzende Gerhard Cromme nur abwarten, welche
weiteren Erkenntnisse die interne Task Force, externe
Antikorruptionsexperten und Strafverfolger gewinnen und mit welchen
juristischen Konsequenzen sie die Ermittlungsergebnisse aufarbeiten
werden. Crommes Vorteil: Er ist im Gegensatz zu Pierer unbefangen.
Das ändert indes nichts daran, dass jedes neue Kapitel, das zu dieser
Finanzaffäre geschrieben werden muss, immer wieder durchaus
erfreuliche geschäftliche Entwicklungen überlagern und neuerliche
Imageschäden verursachen wird - womöglich mit negativen Rückwirkungen
auf das Geschäft.

Ist Pierers Rücktritt nun ein Beweis für die These, dass ein
früherer Vorstandschef an der Spitze des Aufsichtsrats nichts
verloren hat? In dieser Verallgemeinerung sicher nicht. Zum Glück
wird nicht jeder Vorsitzende eines Kontrollorgans von einer
strafrechtlich relevanten Vergangenheit eingeholt, in der er
Verantwortung und persönliche Verantwortlichkeit für das von ihm
geführte Unternehmen trug. Eine generelle Ablehnung des Wechsels vom
Vorstands- in den Aufsichtsratsvorsitz lässt sich mit dem Fall
Siemens mithin nicht begründen. Wohl aber liefert dieser Fall starke
Indizien dafür, dass ein Aufsichtsratsvorsitzender, dem Derartiges
widerfährt, gebotene persönliche Konsequenzen beizeiten ziehen
sollte. Pierer zieht sie zu spät.

(Börsen-Zeitung, 21.4.2007)

Originaltext: Börsen-Zeitung
Digitale Pressemappe: http://presseportal.de/story.htx?firmaid=30377
Pressemappe via RSS : feed://presseportal.de/rss/pm_30377.rss2

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