Der langjährige Rückgang beim Kaufkraftpotenzial von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist 2004 und 2005 durch die letzten Stufen der rot-grünen Steuerreform kurzfristig aufgehalten worden. Doch die Beschlüsse der großen Koalition werden die ungleiche Entwicklung zwischen den Arbeitseinkommen einerseits sowie den Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen andererseits wieder forcieren. Dies ist eine Schlussfolgerung aus dem neuen Verteilungsbericht 2005 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. 'Damit wächst die Gefahr, dass Deutschland noch tiefer in die Verteilungsfalle gerät, die seit langem auch für die Schwäche von Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt verantwortlich ist', sagt Dr. Claus Schäfer, Autor des WSI-Verteilungsberichts.
Mit dem Begriff der Verteilungsfalle beschreibt die WSI-Analyse das Auseinanderklaffen von guter Auslandsnachfrage und schlechter Binnennachfrage sowie deren Hintergrund: eine ungleiche Einkommensentwicklung und eine Fiskalpolitik, die diese Ungleichheit noch verstärkt. Beide Entwicklungen stellen Langfrist-Trends dar. Das machen Eckdaten des Berichts deutlich, der in der aktuellen Ausgabe der WSI-Mitteilungen erscheint:
- Die Netto-Lohnquote, die man mit dem Kaufkraftpotenzial der Arbeitseinkommen gleichsetzen kann, ist drastisch von 48,1 Prozent des privat verfügbaren Volkseinkommens im Jahr 1991 auf nur noch 41,5 Prozent 2004 gesunken. Wie stark die Arbeitseinkommen seit langem zurückfallen, zeigt der Vergleich über mehrere Jahrzehnte: 1960 betrug die Netto- Lohnquote noch 55,8 Prozent.
- Zu diesem Rückgang haben zunehmende Arbeitslosigkeit, ein wachsender Niedriglohnsektor und dauerhaft geringe Lohnzuwächse beigetragen. Aber auch die öffentliche Steuer- und Abgabenpolitik. Das zeigt die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung der Arbeitseinkommen. Sie stieg von 6,3 Prozent 1960 auf 16,3 Prozent 1991 und 19,5 Prozent 1998. Aktuell beträgt die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung 17,7 Prozent. Die rot-grünen Steuerreformen haben also eine Entlastung von 1,8 Prozentpunkten erbracht. Parallel stieg die durchschnittliche Belastung der Arbeitseinkommen mit Sozialversicherungsbeiträgen von 9,4 Prozent im Jahr 1960 auf 14,3 Prozent 1991 und 16,5 Prozent 2004. Die rot-grünen Senkungsbemühungen haben sich kaum ausgewirkt.
- Im Gegensatz dazu ist die durchschnittliche Belastung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen mit direkten Steuern durch zahlreiche politische Maßnahmen relativ kontinuierlich vermindert worden. 1960 betrug die Belastung noch 20 Prozent, 1980 waren es 15,3 Prozent und 1991 noch 8,1 Prozent. Bis 1997 sank die Steuerbelastung sogar auf einen Tiefststand von 3,4 Prozent. Unter der rot-grünen Regierung stieg dieser Anteil zunächst moderat, um seit 2002 wieder zurückzugehen. Zwischen 2003 und 2004 sank die Belastung von 5,5 Prozent auf nur noch 5,3 Prozent.
- Den Staat finanzieren vor allem die Steuern der aktiven und ehemaligen Beschäftigten: Die Lohnsteuer und die größten Verbrauchsteuern, die weitestgehend aus der Entstehung und Verausgabung von Arbeitseinkommen und Lohnersatzeinkommen anfallen, erbrachten 2004 76,5 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Die Summe aller Gewinnsteuern (veranlagte Einkommensteuer, Dividendensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Zinsabschlagsteuer) macht dagegen nur noch 15,1 Prozent aus. Zum Vergleich: 1960 trugen beide Steuergruppen noch fast paritätisch zur Finanzierung des Staates bei.
Die ungleiche Einkommensverteilung hat negative Konsequenzen für die binnenwirtschaftliche Nachfrage, so WSI-Experte Dr. Claus Schäfer: 'Die konsumnahen privaten Einkommen wurden erheblich geschwächt, die konsumfernen gestärkt.' Zudem wurde die öffentliche Nachfrage durch die Steuerentlastungen von hohen Einkommen (z.B. Senkung des Spitzensteuersatzes), Gewinnen (Senkung der Körperschaftsteuer) und Vermögen (Aussetzung der Vermögensteuer) zunehmend belastet.
Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung und die Sparvorhaben im Bundeshaushalt entzögen insbesondere konsumnahen privaten Einkommen weiteres Nachfragepotential, analysiert der WSI-Verteilungsbericht. Lediglich die so genannte Reichensteuer weise zu einem alternativen Politikansatz. Sie bringe jedoch nur ein eher symbolisches Mehraufkommen. Auch das geplante Investitionsprogramm kehre die zunehmende Polarisierung der Einkommensverteilung angesichts seiner geringen Dimension nicht um.
Aus verteilungspolitischer und wachstumspolitischer Sicht sei eine entgegengesetzte Akzentsetzung der Politik sinnvoll, so Schäfer: Eine deutliche Wiedererhöhung des privaten Spitzensteuersatzes oder eine Wiedereinführung der Vermögensteuer könnten der öffentlichen Hand konjunkturunschädlich den notwendigen Spielraum verschaffen. Angesichts einer im EU-Vergleich unterdurchschnittlichen Abgabenquote und der ungleichen deutschen Einkommensverteilung lasse sich auf diese Weise ein Einbruch bei der öffentlichen Nachfrage vermeiden, ohne die private Nachfrage zu belasten. Die private Nachfrage werde sogar gestärkt, wenn Teile der Steuererhöhungen genutzt würden, um die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen zu senken.
Quelle: Pressrelations.de