BERLINER MORGENPOST: Und plötzlich zählt nur noch das Menschsein Michael Miersch über das globale Mitleiden mit den eingeschlossenen Bergleuten in Chile
Geschrieben am 13-10-2010 |
Berlin (ots) - Der britische Journalist Claud Cockburn gewann in
den 30er-Jahren einen legendär gewordenen Wettbewerb unter Kollegen.
Die Aufgabe lautete: Wer textet die uninteressanteste Überschrift?
Cockburn siegte mit der Zeile: "Kleines Erdbeben in Chile. Nicht
viele Tote." Chile, das war zu dieser Zeit für die meisten Menschen
in Europa kein Teil ihrer Wirklichkeit. Es war ein exotischer Ort, so
irreal wie "Eldorado". Heute fiebern wir der Rettung der Bergleute
von San José entgegen und freuen uns wie einst die Generation der
Großeltern beim "Wunder von Lengede", als elf durch ein Grubenunglück
Eingeschlossene nach zwei Wochen befreit werden konnten. Die
Globalisierung hat auch zur globalen Empathie geführt. Und das nicht
nur in großen historischen Momenten wie dem Mauerfall, als die ganze
Welt mit den Berlinern jubelte. Die Menschheit rückt zusammen.
Vorgestern war es bedeutend, ob man Franzose oder Deutscher ist,
gestern noch wurde das Mitfühlen nach Hautfarbe dosiert, heute zählt
das Menschsein. Dieses zivilisatorische Wachstum wurde von
technischen Forschritten verstärkt. Einer davon war die Raumfahrt,
die uns Bilder der Erde aus dem All zeigte. Plötzlich war die
Eine-Welt-Idee sichtbar. Die elektronischen Medien trugen heftig dazu
bei, dass aus Fremden Nachbarn wurden. Kulturelle Abneigung und
ethnisches Misstrauen sind nicht ausgestorben. Aber es sind die
rückständige Kulturen, die das Trennende aufrechterhalten oder sogar
noch vertiefen wollen. Immer mehr Menschen empfinden sich als Teil
einer universellen Gattung und sehen die Gefühle und Eigenschaften im
Vordergrund, die alle teilen: Lebenslust, Liebe und Humor, Leid und
Angst sind überall ähnlich und können mitgefühlt werden. Dass die
Menschheit zusammenwächst, war einmal eine Utopie der Linken.
"Proletarier aller Länder vereinigt euch", steht auf dem Grabstein
von Karl Marx. Zumindest in Momenten der Not und der Freude, sind die
Völker heute tatsächlich vereint, und die Interessengegensätze treten
zurück. Das war nicht immer so und ist auch heute nicht überall so.
Doch immer weniger Menschen lassen sich einreden, dass ihr Leben
unbedeutend ist, angesichts von Nation, Religion oder Ideologie.
Voraussetzung für die globale Empathie sind jedoch Bilder.
Menschliche Tragödien aus Nordkorea oder dem Kongo werden auch heute
noch zumeist in Textform übermittelt und dringen dadurch nicht in die
Herzen vor. Die Länder, in denen Unterdrückung und Armut für
Bilderlosigkeit sorgen, werden weniger. Fast überall auf der Welt hat
heute irgendwer ein Kamerahandy dabei. Es ist nur eine Frage der
Zeit, bis die letzen Lücken im weltweiten Kommunikationsnetz
geschlossen sind. Rund eine Milliarde Menschen verfolgten die Rettung
der chilenischen Minenarbeiter per Internet, Radio oder Fernsehen.
Ein Freudentag für Chile und für die Welt.
Originaltext: BERLINER MORGENPOST
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Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de
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