Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 20. Oktober 2010 die Rede von Bundespräsident Wulff vor dem türkischen Parlament:
Geschrieben am 19-10-2010 |
Bremen (ots) - Diplomatisch deutlich
von Joerg Helge Wagner Ausgerechnet Jürgen Trittin! Dass der
Fraktionschef der Grünen im Bundestag gestern der erste deutsche
Polit-Promi war, der Christian Wulffs Rede vor dem türkischen
Parlament lobte, werden die konservativen Kritiker des
Bundespräsidenten zunächst als Bestätigung auffassen: Na also, der
frühere christdemokratische Regierungschef von Niedersachsen ist im
höchsten Staatsamt ergrünt - er ist keiner mehr von uns! Wenn sie
einmal tief durchgeatmet haben, werden die nachdenklicheren Köpfe in
der Union freilich erkennen, dass das nicht stimmt. Integration ist
dem Mann aus Osnabrück schon lange Herzensanliegen und politischer
Auftrag zugleich - immerhin hat er als Regierungschef in Hannover die
erste türkisch-stämmige Landesministerin ernannt. Seiner
Glaubwürdigkeit in Ankara hat das sicher nicht geschadet, als er
gestern auch die kritischen Punkte im deutsch-türkischen Verhältnis
diplomatisch deutlich ansprach. Hier kam alles aufs Tapet, was der
rechte Flügel der Union in der Bremer Rede am 3. Oktober vermisst
hatte - was dort aber auch überhaupt nicht hingehört hätte. Wulff
erklärte den türkischen Parlamentariern, warum die aktuelle
Integrationsdebatte in Deutschland so hitzig verläuft und warum sie
so auf die hier lebenden Türken und Muslime fokussiert ist: Es ist
die überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Staatshilfe, die
besorgniserregende Kriminalitätsrate, die verbreitete offene
Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Bildungsangebote.
Offenbar ist das den politischen und gesellschaftlichen Eliten in der
Türkei bislang gar nicht so bewusst gewesen. Dass unter den
Hartz-IV-Beziehern in Deutschland der Anteil türkischer Migranten
doppelt so hoch ist wie jener der Bundesbürger - in Ankara, Istanbul
oder Izmir hat das ebenso wenig interessiert wie die deutsche
Kriminalitätsstatistik. Und das Phänomen von "Deutschenfeindlichkeit"
an manchen sozialen Brennpunkten in Deutschland muss für türkische
Politiker schwer vorstellbar, geradezu unglaublich sein:
Wahrscheinlich gibt es in der Türkei keine einzige Schulklasse, in
der türkische Kinder in der Minderheit sind. Wenn der türkischen
Führung nun klar wird, dass sie auch für das Verhalten ihrer im
Ausland lebenden Landsleute Verantwortung trägt, ist das ein
Fortschritt. Und wenn sich der verstetigt, ist das eher ein Verdienst
von Wulff als von Sarrazin oder Seehofer. Deren Namen brauchte er
übrigens gar nicht in den Mund zu nehmen, um in Ankara Klartext zu
reden. Beim heiklen Thema "Christen in der Türkei" reichte ein
cleverer Verweis auf genau jene Passage seiner Bremer Rede, über die
sich die deutsche Rechte so erregt: Wie der Islam zu Deutschland
gehöre, so gehöre auch das Christentum zur Türkei. Und Wulffs
türkische Zuhörer werden das unausgesprochene "mindestens" genau
verstanden haben: Das Gebiet der Türkei wurde schließlich über viele
Jahrhunderte vom Christentum geprägt - in Deutschland ist der Islam
hingegen ein seit wenigen Jahrzehnten zunehmend deutlich
wahrnehmbares Symptom. Doch das Offensichtliche musste Wulff gar
nicht erst erwähnen, um eine glasklare Forderung zu formulieren:
gleiche Rechte für Christen und Muslime in der (laizistisch
verfassten) Türkei. Christen sollten in der Türkei ebenso öffentlich
ihren Glauben leben, theologischen Nachwuchs ausbilden und
Gotteshäuser bauen können wie die Muslime in Deutschland - deutlicher
hätte das nicht einmal der Papst sagen können. Im Gegensatz zu jenem
hat Wulff aber auch ein politisches Druckmittel: den türkischen
Wunsch nach einem EU-Beitritt. Der Bundespräsident machte deutlich,
dass Religionsfreiheit in einer Wertegemeinschaft wie der EU nicht
verhandelbar, sondern unabdingbar ist - als eine von mehreren
Voraussetzungen für faire und ergebnisoffene Verhandlungen. Dass es
ihm auch damit ernst ist, zeigte er seinen Zuhörern mit dem Wort
"Anbindung", das im Gegensatz zu Merkels Formulierung von der
"privilegierten Partnerschaft" wirklich ergebnisoffen ist. Wulff hat
mit schlichten Worten eine glänzende Rede gehalten - an seine
Gastgeber und an sein eigenes Volk.
joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
Originaltext: Weser-Kurier
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