Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 28. Januar 2011 die Rede von Bundespräsident Christian Wulff anlässlich des Holocaust-Gedenktages in Auschwitz:
Geschrieben am 27-01-2011 |
Bremen (ots) - Der Anspruch von Auschwitz
von Joerg Helge Wagner
Gerade zwei DinA4-Seiten füllt die Rede, die der Bundespräsident
gestern in Auschwitz gehalten hat. Zu wenig für mehr als 1,1
Millionen Menschen, die hier ermordet wurden? Nein, denn auch eine
ganze Bibliothek würde nicht ausreichen, sich das Grauen in seiner
Gesamtheit vorzustellen - aber das erzählte Schicksal eines einzigen
Opfers gibt uns eine tiefe Ahnung davon. Das wurde gestern erneut
deutlich, als im Bundestag erstmals ein Vertreter der Sinti und Roma
als Überlebender des Nazi-Völkermordes sprach. Die Schilderung von
Zoni Weisz, wie er als einziger seiner Familie dem mörderischen
Rassenwahn entkam, kann keinen der anwesenden Volksvertreter
unberührt gelassen haben. Vertreter eines Volkes, das erfüllt ist mit
Abscheu und Scham über die Verbrechen, die in seinem Namen begangen
wurden - so jedenfalls beteuerte es Wulff in Auschwitz.
Das klingt sicherlich gut für die wenigen noch lebenden Opfer, für
ihre Nachfahren, für die aufmerksamen Beobachter in Polen, Israel,
den Niederlanden und all den vielen Staaten, die einst unter
deutscher Besatzung gelitten haben. Insofern hat Christian Wulff
gestern als oberster Repräsentant des neuen, demokratischen,
weltoffenen Deutschland alles richtig gemacht. Kein Wort zu viel, das
irgendwelche Zweifel nähren konnte an der historischen Verantwortung
Deutschlands, die unabhängig ist von individueller Schuld. Und doch
ist gerade hier Skepsis angebracht, ob der Bundespräsident
tatsächlich das Mehrheitsempfinden seines Volkes wiedergegeben hat.
Ist aus Abscheu und Scham über "Auschwitz" tatsächlich ein besonderes
deutsches Verantwortungsgefühl erwachsen, nie wieder ein solches
Menschheitsverbrechen zuzulassen?
In der Binnensicht kann man das sicher bejahen. In sechs
Jahrzehnten hat sich die Bundesrepublik als eine außerordentlich
stabile Demokratie erwiesen: Gesellschaftliche Konflikte wurden
weitestgehend gewaltfrei ausgetragen; linker wie rechter Extremismus
blieb immer eine Randerscheinung, schlimmstenfalls von regionaler
Bedeutung. Selbst wenn Neonazis gelegentlich den Einzug in
Landesparlamente schafften: Dort wurden sie immer so rasch demaskiert
und vorgeführt, dass sie nie wirklich populär oder gar mehrheitsfähig
werden konnten.
Im Bemühen um "Aufarbeitung" oder "Bewältigung" der NS-Verbrechen
lief die bundesdeutsche Gesellschaft zuweilen sogar Gefahr, es mit
deutscher Gründlichkeit zu übertreiben: Während im
Geschichtsunterricht der 50er und 60er Jahre das Dritte Reich
geradezu ausgeklammert wurde, schien sich in den folgenden
Jahrzehnten die vermitteltete deutsche Geschichte häufig auf diese
katastrophalen zwölf Jahre zu reduzieren. Und die "Einzigartigkeit
des Holocaust" wurde zum Bekenntnis, das wie jeder Glaubensgrundsatz
weitergehende, vergleichende Forschung blockierte. Glücklicherweise
hat eine jüngere Generation von Wissenschaftlern erkannt, dass man so
eine Wiederholung des absolut Bösen kaum verhindern kann, wenn man
seine komplexen Ursachen nicht völlig ausleuchtet.
Genau das aber ist die Verpflichtung, die Wulff gestern in
Auschwitz einforderte: die Würde des Menschen unter allen Umständen
zu wahren, einen derartigen Zivilisationsbruch nie wieder zuzulassen
- in Europa und weltweit. Das weist in Gegenwart und Zukunft. Wulff
hat nicht explizit erläutert, was "unter allen Umständen" zu bedeuten
hat - aber er hat diesen Satz an einem Ort gesagt, an dem das Morden
erst durch eine massive militärische Intervention beendet worden ist.
Und er hat mit Sicherheit nicht bloß das Recht des jüdischen Staates
auf Selbstverteidigung damit unterstreichen wollen. Es geht um die
Mahnung von Millionen Opfern: dass die Menschenrechte immer und
überall für jeden zu gelten haben und durch keinerlei kulturelle
Unterschiede relativiert werden können. Das ist der ungeheure
Anspruch, den Auschwitz an uns stellt.
joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
Pressekontakt:
Weser-Kurier
Produzierender Chefredakteur
Telefon: +49(0)421 3671 3200
chefredaktion@Weser-Kurier.de
Kontaktinformationen:
Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.
Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.
Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.
http://www.bankkaufmann.com/topics.html
Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.
@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf
E-Mail: media(at)at-symbol.de
312817
weitere Artikel:
- Rheinische Post: Minister lässt Fragen offen Düsseldorf (ots) - Ein Kommentar von Gerhard Voogt:
Die Frage war glasklar. "Wann haben Sie von der besseren
Haushaltsentwicklung erstmals erfahren?", wollte die Union im
Düsseldorfer Landtag gestern im Haushalts- und Finanzausschuss von
NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans wissen. Zweieinhalb Stunden
hatte der SPD-Politiker Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Doch eine
konkrete Antwort blieb er schuldig. Eine Strategie, mit der sich der
umstrittene Finanzminister einmal mehr keinen Gefallen getan hat.
Sicher, für Walter-Borjans mehr...
- Rheinische Post: Die Last der Pflege Düsseldorf (ots) - Ein Kommentar von Eva Quadbeck:
Die Kosten für die Pflege sind zurzeit für die Allgemeinheit recht
gut zu schultern, weil es Hunderttausende von Angehörigen gibt, die
ihre nahen Verwandten zu Hause pflegen. Dies ist für die Sozialkassen
die günstigste Variante. Der Einsatz ambulanter Pflegedienste kostet
mehr, ein Heimplatz sowieso. Für die meisten Pflegebedürftigen wird
es wohltuend sein, dass sie sich nicht in fremde Hände begeben
müssen. Doch für viele Angehörige ist die Pflege eine seelische und
körperliche mehr...
- Rheinische Post: Ägyptens Hoffnung Düsseldorf (ots) - Ein Kommentar von Matthias Beermann:
Noch ist lange nicht ausgemacht, was aus dem Protest gegen das
Mubarak-Regime in Ägypten wird. Aber eine gute Nachricht gibt es: Wie
schon in Tunesien sind es keineswegs zottelbärtige Islamisten, die da
demonstrieren, sondern junge, weltlich orientierte Menschen. Sie
fordern keinen Gottesstaat und keine Scharia, sondern soziale
Reformen, mehr politische Freiheit und ein Ende der schamlosen
Bereicherung einer kleinen Macht-Elite. Die Demonstranten wollen
nicht unbedingt eine mehr...
- BERLINER MORGENPOST: Platzeck darf sich keine Panne mehr leisten - Leitartikel Berlin (ots) - Mit fünf Ministern von der SPD ist Matthias
Platzeck vor anderthalb Jahren in seinem rot-roten Kabinett in
Potsdam gestartet. Am Donnerstag hat er bereits den dritten
Ressortchef verloren. Erst ging Infrastrukturministerin Jutta Lieske
aus persönlichen Gründen. Dann folgte nach wochenlanger Hängepartie
und einer unappetitlichen Affäre Innenminister Rainer Speer. Und
jetzt wirft Bildungsminister Holger Rupprecht das Handtuch, weil er
so dumm und eitel war, sich für den privaten Winterurlaub von einem
Autohaus einen mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Ägypten / Proteste Osnabrück (ots) - Große Hoffnung auf Baradei
Es ist bemerkenswert, wie schnell und deutlich sich US-Regierung
und Europäische Union auf die Seite der Demonstranten in Tunesien und
Ägypten stellen. Schließlich wurden in den vergangenen Jahrzehnten
alle Herrscher im arabischen Raum, die die Islamisten in Schach
halten konnten, mit Dollar-Milliarden und Wirtschaftsdeals belohnt.
So konnten es sich die Potentaten bequem machen und persönlichen
Reichtum anhäufen, während Demokratie und Menschenrechte litten.
Das Einzige, was die mehr...
|
|
|
Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten
Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:
LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre
durchschnittliche Punktzahl: 0 Stimmen: 0
|