"Grundgesetz fordert fördernde Neutralität"/
EKD-Kirchenamtspräsident Hans Ulrich Anke zu Kirche und Recht
Geschrieben am 04-05-2011 |
Hannover (ots) -
Sperrfrist: 04.05.2011 16:30
Bitte beachten Sie, dass diese Meldung erst nach Ablauf der
Sperrfrist zur Veröffentlichung freigegeben ist.
Der Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD), Dr. Hans Ulrich Anke, hat heute im
niedersächsischen Oldenburg daran erinnert, dass das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland die weltanschauliche Neutralität des
Staates im Sinne einer fördernden Neutralität verstehe.
Damit wandte sich Anke gegen Forderungen, das "vom Grundgesetz
gewollte und garantierte Verhältnis von Staat und Kirche in unserem
Lande zu revidieren". Der "fördernde Impuls in Bezug auf Religionen
und Weltanschauungen" sei den "Vätern und Müttern des Grundgesetzes"
außerordentlich wichtig gewesen. Hierin bestehe ein zentraler
Unterschied zu Verfassungsordnungen anderer Staaten zum Beispiel zur
französischen Laicité.
Gerade die öffentliche Dimension, so Anke, trage dazu bei, dass
Menschen ihr Leben am besten nach ihren religiösen Überzeugungen
ausrichten können. Und sie führe dazu, dass unterschiedliche
Religionsgemeinschaften voneinander wissen, neben- und miteinander
wirken und sich wechselseitig respektieren könnten.
Die "öffentliche Dimension", so der Präsident weiter, präge den
"Diskurs über die Werte und Grundorientierungen einer Gesellschaft".
Dies sei auch dringend nötig, denn "unsere Gesellschaft lebt davon,
dass sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, wie der
Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur oder auch der
Religion die Vielfalt gesellschaftlicher Kräfte in Freiheit
entfalten."
Außerdem wandte sich Anke gegen die verbreitete Rede von der
"hinkenden Trennung" zwischen Staat und Kirche. Der Begriff, so der
42-jährige Jurist, der seit 1. Dezember 2010 das Kirchenamt der EKD
in Hannover leitet, suggeriere "etwas Krankhaftes, zumindest
Unvollendetes im Verhältnis zwischen Staat und
Religionsgemeinschaften", was überhaupt nicht der Realität
entspreche, denn die Trennung zwischen Staat und
Religionsgemeinschaften sei klar gewährleistet: "Der säkulare,
religiös-neutrale Staat kann und darf nicht über religiöse Fragen
befinden. Und die Religionsgemeinschaften können und dürfen nicht an
Stelle des Staates dessen hoheitliche Aufgaben entscheiden."
Hans Ulrich Anke sprach in der Feierstunde für den oldenburgischen
Altbischof Wilhelm Sievers anlässlich von dessen 80. Geburtstag am
heutigen Mittwoch in der St. Lambertikirche zu Oldenburg.
Hannover, 4. Mai 2011
Pressestelle der EKD
Reinhard Mawick
Originaltext des Vortrages von Dr. Hans Ulrich Anke Präsident des
Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)in der St.
Lamberti-Kirche in Oldenburg anlässlich der Begegnung zum 80.
Geburtstag von Altbischof Wilhelm Sievers am Donnerstag, 4. Mai 2011
Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Donnerstag, 4. Mai 2011,
16:30 Uhr
Anreden
"Der Mensch im Recht" - dieser Titel hat mich neugierig gemacht.
Veröffentlicht hat ihn 1973 Wilhelm Sievers, damals noch nicht
Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg, sondern
Pastor und später Propst in Kappeln an der Schlei. Welche
gedanklichen Linien führt da jemand zusammen, der Theologie und
Rechtswissenschaften gelernt hat? I. "Der Mensch im Recht". Im Recht
sein und im Recht bleiben, damit sollen Juristen sich auskennen. Sie
lernen Zivilrecht, Öffentliches Recht und andere materielle
Rechtsgebiete samt den dazugehörigen Prozessordnungen. Sie setzen
diese Kenntnisse ein, damit Menschen dafür streiten können, was sie
als ihr gutes Recht ansehen.
Was aber hat ein Theologe zu alledem zu sagen? Wilhelm Sievers
fasst das in seinem Schlusssatz der angeführten Schrift "Der Mensch
im Recht" so zusammen:
"Der Beitrag der Kirche für die Entwicklung des Rechts wird darin
liegen, die Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer Traditionsgeschichte
in die Diskussion über das Recht einzubringen und Menschen im Ringen
um das Recht zu stärken und zu festigen".
Wilhelm Sievers hat mit zahlreichen Predigten, Vorträgen und
Schriften einen elementaren Beitrag dazu geleistet, Menschen im
Ringen um das Recht zu stärken und zu festigen. Die Titel seiner
Bücher sind sprechend: "Im geistlichen Amt" aus 1989, "Leben - Auf
die Einstellung kommt es an" aus 1992, "Das Bekenntnis der Kirche und
der Glaube der Christen" aus 1996 und "Vertrauen wagen" aus 1998.
Dabei hat Wilhelm Sievers immer wieder herausgestellt, was es ihm
bedeutet, in der Weite des Generationenzusammenhangs zu denken und zu
leben:
Der Mensch ist "ein Glied in einer langen Kette ... Er lebt von
dem Erbe der Ahnen und ist zugleich den Nachkommen verpflichtet. Das
Leben gewinnt besonderen Sinn in dem Generationenvertrag und es
bewahrt zugleich vor einer Selbstüberschätzung und der
Überheblichkeit, als ob das ganze Leben sich nur auf die Sorge und
das Wohlbefinden des eigenen Lebens reduzierte..." ("Leben - Auf die
Einstellung kommt es an", S. 57).
So ging es Sievers auch darum, die Erfahrungen und Erkenntnisse
der kirchlichen Traditionsgeschichte generationenübergreifend zu
erschließen, weiterzutragen und für die Gestaltung einer im Dienste
des Menschen stehenden rechtlichen Ordnung fruchtbar zu machen. Also:
Lernen von der Vätern - und natürlich Müttern auch für das Verhältnis
von Kirche und Recht.
Was sind nun solche Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer
Traditionsgeschichte, die die evangelische Kirche in die Diskussion
um das Recht einbringen kann? Ich greife vier für meine Sicht des
Christenmenschen im Recht besonders wichtige Erfahrungsgeschichten
heraus: II. 1. Ich beginne bei den biblischen Überlieferungen: Wie
war das damals mit den zehn Geboten?
Gott lässt Mose ja nicht nur die zehn Gebote wissen, sondern dazu
noch eine große Menge an Rechtsordnungen (2. Mose 20-23). Diese
Rechtsordnungen enthalten eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen
von den Rechten der hebräischen Sklaven über Sanktionen bei Vergehen
gegen Leib und Leben bis hin zu Regelungen für die Heiligung des
Sabbats und der großen Feiertage. Es ist bemerkenswert, wie
detailreich selbst die Gestaltung der Stiftshütte, der Bundeslade und
der Priesterkleidung sowie Fragen der Opfergaben und der Steuer für
das Heiligtum reglementiert sind. Es ist an alles gedacht, bis hin
zur Zubereitung des Räucherwerks. Das waren Zeiten für das ius
liturgicum! Heute fällt es ja schon schwer, den Talar mit Beffchen
als Amtstracht den Pfarrern verbindlich vorzugeben.
"Mose kam und sagte dem Volk alle Worte des Herrn und alle
Rechtsordnungen. Da antwortete alles Volk wie aus einem Munde: Alle
Worte, die der Herr gesagt hat, wollen wir tun." (2.Mose 24 V. 3).
Kaum aber ist Mose wieder herauf zu Gott auf den Berg Sinai gegangen,
um die Steintafeln mit den zehn Geboten offiziell entgegenzunehmen,
wirft das Volk diese Rechtordnungen sofort über den Haufen. Es fiel
von Gott dem HERRN ab und machte sich ein goldenes Kalb zu seinem
Gott. Mose ist bei seiner Rückkehr so erzürnt, dass er die
Gesetzestafeln aus der Hand warf und zerbrach (2.Mose 32 V. 1 u.18).
Auch Gott ist zornig, aber das Volk Israel erhält noch eine zweite
Chance. Nun ist es Mose ganz wichtig, dass die Gebote dem Volk im
Gedächtnis bleiben, und es nicht wieder auf ein Goldenes Kalb
zurückfällt. Deswegen mahnt er, dass Gottes Gebote einen "Sitz im
Leben" haben müssen. Mose spricht: "So nehmt nun diese Worte zu
Herzen und in eure Seele und bindet sie zum Zeichen auf eure Hand und
macht sie zum Merkzeichen zwischen Eure Augen und lehrt sie eure
Kinder, dass du davon redest, wenn du in deinem Hause sitzt oder
unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder wenn du aufstehst. Und
schreibe sie an die Pfosten deines Hauses und an deine Tore, auf dass
ihr und eure Kinder lange lebt in dem Land, das der Herr, wie er
deinen Vätern geschworen hat, ihnen geben will, solange die Tage des
Himmels über der Erde währen" (5. Mose 11 V. 18-21).
Mose sorgt sich um die Weitergabe dieser Ordnungen und gibt
schließlich die Weisung aus: "Jeweils nach sieben Jahren zur Zeit des
Erlassjahres, am Laubhüttenfest, wenn ganz Israel kommt zu erscheinen
vor dem Angesicht des Herrn ... sollst du dies Gesetz vor ganz Israel
ausrufen lassen. Versammle das Volk, die Männer, Frauen und Kinder
und den Fremdling, der in deinen Städten lebt, damit sie es hören und
lernen und den Herrn, euren Gott fürchten und alle Worte dieses
Gesetzes halten und tun" (5. Mose 31 V. 10-12).
Dieses ist eine zentrale Erkenntnis für unseren Umgang mit Gottes
Geboten, aber auch mit den weiteren guten Ordnungen für das
Zusammenleben: um sie zu halten und zu erhalten, müssen wir sie immer
wieder vor Augen haben, verinnerlichen, beherzigen. Und es gilt,
dieses Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Denn gute
Ordnungen dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Sie müssen immer
wieder neu gelernt und gelebt, aufgeschrieben und erklärt werden. 2.
Meine zweite Geschichte erzählt davon, dass ein solches "Lernen von
den Vätern" bei den rechtlichen Ordnungen auch seine Tücke haben
kann. Mephisto bringt das in Goethes Faust auf folgende einprägsame
Formel:
"Es erben sich Gesetz und Rechte
wie eine ewge Krankheit fort; sie schleppen von Geschlecht sich zu
Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn,
Wohltat Plage: Weh dir, dass du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit
uns geboren ist, von dem ist leider nie die Frage."
Den Reformatoren um Martin Luther wurde das Kirchenrecht des
Mittelalters zu einer solchen Plage. Sie spürten, dass die von
Generation zu Generation überlieferten rechtlichen Formen der Kirche
das geistliche Leben ausgezehrt hatten. Sie stießen sich an
erstarrten Regelungen des kanonischen Rechts über die klerikale
Hierarchie. Sie widersprachen der ritualisierten Sündenvergebung
durch erkauften Ablass. Diese Liste ließe sich fortführen. Und sie
erklärt Luthers Abneigung gegenüber den Juristenmenschen, zumindest
wenn man seinen Tischreden Glauben schenkt. Dort heißt es:
"Juristen wissen nicht, was die Kirche ist. Wenn sie ihre Bücher
alle durchsuchten, so fänden sie nicht, was die Kirche ist. Ein
jeglicher Jurist ist entweder ein Schalk oder ein Esel, der nichts
kann in göttlichen Sachen. ... Und wenn ein Jurist darüber
disputieren will, so sag ihm: Hörst Du Gesell, ein Jurist soll hier
nicht eher reden, es farze denn eine Sau.... Es ist ein altes
Sprichwort: Ein Jurist, ein böser Christ. Und es ist wahr."
Was aber setzten die Reformatoren dem entgegen? Vor allem die
geistliche Entdeckung: dass der Mensch allein durch Christus
gerechtfertigt ist, dass die Identität und der Wert eines jeden
Menschen allein in der Anerkennung durch Gott begründet ist,
unabhängig von seiner natürlichen Ausstattung, seinem
gesellschaftlichen Status, seinem individuellen Vermögen, seiner
religiösen Leistung und eben auch seiner rechtlichen Stellung. Das
ist im Kern die Erkenntnis von der befreienden Botschaft des
Evangeliums, dass der Mensch mit den eigenen Schwächen und Fehlern
von Gott ganz angenommen ist.
Für Luther persönlich war diese Entdeckung von der Freiheit eines
Christenmenschen ein echter Durchbruch. Viele Menschen suchen auch
heute nach einem solchen Befreiungsschlag, der das ganze Leben prägt
und stärkt. Und es naht eine gute Gelegenheit, für diese befreiende
Erkenntnis der Rechtfertigungsbotschaft wieder neu in unserer
Gesellschaft zu werben: 2017 jährt sich der Thesenanschlag Martin
Luthers in Wittenberg zum 500. Male. Was für eine Chance!
Es geht 2017 nicht um eine Luther-Jubelfeier, sondern um neue
Zugänge und Aufbrüche zum Glauben auf der Grundlage des
reformatorischen Erbes. Und es geht darum, 500 Jahre Reformation mit
den vielfältigen Auswirkungen auf die Entwicklung in Staat und
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur und eben auch
Recht zu veranschaulichen. Dazu dienen die verschiedenen Themenjahre,
die bis zum Jahr 2017 auf das Reformationsjubiläum hinführen. Für
unser Thema "Der Christenmensch im Recht" sind etwa die Jahre 2013
"Reformation und Toleranz" und 2014 "Reformation und Politik" von
besonderer Bedeutung.
Wenn es in Glaubensfragen nach Luther also allein auf die Gnade
Gottes ankommt, dann kann und darf weltlicher Autorität hier keine
Macht zukommen. So ging es Luther bei seinen Auseinandersetzungen mit
den Juristen darum, deren Übergriffe auf die befreiende Botschaft von
Gottes Liebe durch Jesus Christus zu den Menschen abzuwehren. Zum
wahren Glauben führt nur das geistliche Wort, nicht weltliche
Zwangsgewalt. Das war für Luther entscheidend. Zwang war auch nach
Luther hingegen überall dort nötig, wo Menschen nicht allein auf
Gottes Wort hören und deshalb nur mit äußerer Ordnungsmacht zu einem
friedlichen Zusammenleben angehalten werden können.
Diese Erkenntnis der Zwei Reiche und Zwei Regierweisen Gottes
prägt bis heute die rechtliche Gestaltung der evangelischen Kirche
und ihren Beitrag zur Gestaltung der staatlichen Ordnung. Das
geistliche Regiment gründet allein auf Gottes Wort und Sakrament. Das
andere, weltliche Regiment gewährleistet mit äußeren Mitteln bis hin
zum Einsatz staatlicher Gewalt die äußere Ordnung und den Frieden im
Zusammenleben der Menschen.
3.
Meine dritte Geschichte knüpft an leidvolle Erfahrungen aus dem
Kirchenkampf an. Der Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen
Regimes erstreckte sich von Anfang an auch auf den Bereich von Kirche
und Religion. Denn der nationalsozialistische Staat erhob einen
Führungs- und Führeranspruch für alle Lebensbereiche der
Gesellschaft. Viele evangelische Kirchenleitungen gerieten alsbald
unter den Einfluss der "Deutschen Christen", des kirchenpolitischen
Stoßtrupps der Nationalsozialisten.
Welche Erfahrungen zur Gestaltung des Rechts sind hier auf Seiten
der evangelischen Kirche anzuführen? Es ist zum Einen die Einsicht in
eine vielfache Schuldverstrickung. Zum Anderen aber können hier auch
positive Gestaltungsansätze benannt werden. Die Bekennende Kirche
widersetzte sich dem Totalitätsanspruch der Nationalsozialisten auf
der Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen 1934. In der dort
verabschiedeten Theologischen Erklärung heißt es in der 1. These:
"Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist
das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im
Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben."Auf dieser Grundlage ist
das Wesen und der Auftrag der Kirche allein dadurch bestimmt, dass
"Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als
der Herr gegenwärtig handelt" (III. These). Deshalb verwarf die
Bekennende Kirche die "falsche Lehre, als dürfe die Kirche die
Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem
Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen
Überzeugungen überlassen". Das Kirchenrecht bleibt danach dienend
darauf bezogen, den Verkündigungsauftrag der Kirche möglichst optimal
zur Entfaltung zu bringen.
Die Kirche muss sich dabei auf ihren Verkündigungsauftrag
beschränken und darf sich nicht "staatliche Art, staatliche Aufgaben
oder staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des
Staates werden". Auf der anderen Seite darf aber auch der Staat nicht
"über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche
erfüllen".
Als Grundlage für diese Positionsbestimmung in der V. Barmer These
zog die Bekennende Kirche eine biblische Weisung heran: "Fürchtet
Gott, ehrt den König". Dieser Vers aus dem ersten Brief des Petrus
(Kapitel 2, Vers 17) bringt die auf Jesu Worte zurückgehende
Unterscheidung zwischen dem "was des Kaisers ist", und dem, "was
Gottes ist" (Matthäus 22, 21) prägnant zum Ausdruck. Für Christen
stellt diese Unterscheidung eine zentrale Leitlinie dar. Im Kern geht
es dabei auf der einen Seite um die Freiheit des christlichen
Glaubens von der Bevormundung durch staatliche Macht. Und auf der
anderen Seite gilt es, die Freiheit politischer Verantwortung vor
religiöser Bevormundung zu bewahren.
Der spätere Oldenburger Oberkirchenrat Hermann Ehlers, der
maßgeblich in der Bekennenden Kirche engagiert war, bringt die
Erfahrungen dieser Zeit folgendermaßen auf den Punkt: "Nach mehreren
Jahrhunderten des Landeskirchentums, in dem die Regierung der Kirche
durch den Staat fast als selbstverständlich angenommen war ... wurde
hier zum ersten Mal die Eigenbestimmung der Kirche nicht nur über
ihre Lehre, sondern auch über ihre Ordnung, d.h. ihren ganzen Aufbau,
proklamiert. Das Jahr 1934 wird dadurch immer seine Bedeutung in der
Geschichte der Deutschen Evangelischen Kirche behalten, dass die
Abwehr eines totalitären Zentralismus nicht zur Flucht in die
atomisierten Landeskirchen führte, sondern in das gemeinsame Bekennen
rief" (Hermann Ehlers, Europa-Archiv 1947, S. 609, 612).
Soweit Sie, sehr geehrte Damen und Herren, mit der Oldenburger
Kirchengeschichte vertraut sind, werden Sie Ihrem berühmten
Oberkirchenrat der Nachkriegszeit sicher nach-sehen, dass er bei
seiner Würdigung der Bekennenden Kirche eine Oldenburger Besonderheit
unerwähnt lässt. Bereits 1849 verfügte eine Synode der Oldenburger
Kirche die Trennung von Staat und Kirche in Oldenburg. Das
landesherrliche Kirchenregiment war aufgehoben. Der Synode oblag das
Gesetzgebungsrecht und der Oberkirchenrat war ihr als Amtsstelle
zugeordnet. Freilich währte diese Eigenständigkeit der Oldenburger
Kirche gegenüber dem Staat nur ausgesprochen kurz. Bereits 1852, also
nur drei Jahre später, erhielt der Großherzog das landesherrliche
Kirchenregiment zurück.
Eine andere Erkenntnis Hermann Ehlers aus der Zeit des
Kirchenkampfes teilen Sie in Oldenburg aber hoffentlich nach wie vor:
nämlich dass es darauf ankommt, die gewachsene Einheit quer durch die
Bekenntnisse innerhalb der evangelische Kirche und quer durch die
Grenzen der Landeskirchen für eine möglichst wirkungsvolle
Evangelische Kirche in Deutschland zu nutzen. Hermann Ehlers hat sie
eingesetzt für die Gestaltung der Grundordnung der EKD. Es war mit
sein Verdienst, dass die evangelische Kirche ihre Einheit nach dem
Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes ausdrücklich auch
auf die Ergebnisse aus dem Kirchenkampf und auf die Erkenntnisse aus
der Barmer Theologischen Erklärung gegründet hat. Das ist ein hoher
Anspruch, an dem wir uns gemeinsam messen lassen müssen. 4. Bleibt
schließlich und viertens noch ein Blick auf die Traditionsgeschichte
des deutschen Staatskirchenrechts. Auch für das Staatskirchenrecht
gilt, dass es mit dem Wechsel der Generationen immer schwieriger
wird, seine Plausibilität, ja seine Überzeugungskraft deutlich zu
machen. Die Stichworte Individualisierung, Pluralisierung,
Säkularisierung und Europäisierung stehen für weitreichende
Veränderungen unserer Gesellschaft.
In diesem Umfeld lohnt es sich aufzuzeigen, welchen Beitrag das
Grundgesetz für das friedliche und freiheitliche Zusammenleben
verschiedener Religionen leistet. Die Väter und Mütter des
Grundgesetzes haben die unantastbare Würde und die unveräußerliche
Freiheit des Menschen als den bestimmenden Maßstab für das staatliche
Handeln herausgestellt. In Abkehr von den Verbrechen des
nationalsozialistischen Staates wird darin deutlich, dass der Staat
des Grundgesetzes "um des Menschen willen da" ist, wie es der
Verfassungsentwurf des Parlamentarischen Rates für das Grundgesetz
ausgedrückt hatte.
Daraus folgt, dass der Verfassungsstaat des Grundgesetzes das
Handeln des Staates und seine Ordnungen in den Dienst der freien
Entfaltung aller Bürgerinnen und Bürger in der Gesellschaft stellt.
Das setzt die grundrechtlich verbürgte Betätigung der Menschen in
vielfältigen Formen frei, sei es je für sich allein oder in
Gemeinschaft mit anderen.
Für die Ausgestaltung der Religionsfreiheit waren dabei
jahrhundertelange Erfahrungen von konfessionellen Kämpfen mit
unbeschreiblichem Leid und maßloser Zerstörung prägend. Schon früh
sind in Deutschland staatliche Friedensordnungen errungen worden, die
das Gegen-, Neben- und schließlich Miteinander von unterschiedlichen
Konfessionen auf ein und demselben staatlichen Territorium
ausgestalteten. Den Anfang dazu bildete der Augsburger
Religionsfrieden von 1555. Diese Erfahrungen prägen bis heute das
deutsche Staatskirchenrecht als ein System des freiheitlichen
Ausgleichs. Das ist ein großer Schatz, den wir nicht verspielen
dürfen.
Und dazu sollte man radikal mit missverständlichen Begriffen
aufräumen: "Hinkende Trennung" ist so ein Missgriff, den auch Wilhelm
Sievers 1998 scharf zurückgewiesen hat. Der Begriff suggeriert etwas
Krankhaftes, zumindest Unvollendetes im Verhältnis zwischen Staat und
Religionsgemeinschaften. Dabei ist die Trennung zwischen Staat auf
der einen Seite und Religionsgemein-schaften auf der anderen Seite
klar gewährleistet: Der säkulare, religiös-neutrale Staat kann und
darf nicht über religiöse Fragen befinden. Und die
Religionsgemeinschaften können und dürfen nicht an Stelle des Staates
dessen hoheitliche Aufgaben entscheiden. Auch hier gilt im
übertragenen Sinne: "Fürchtet Gott, ehrt den König!"
Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche ist in dem
ausdrücklichen Verbot der Staatskirche fest verankert. Sie geht von
der Unterschiedlichkeit des geistlichen Auftrags der Kirche und der
weltlichen Aufgaben des Staates aus. Das System des freiheitlichen
Ausgleichs von Staat und Kirche lebt davon, dass die Trennung von
Staat und Kirche gleichermaßen Distanz und Kooperation gebietet. Das
Grundgesetz gibt den Kirchen, Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften ganz bewusst und willentlich den Raum,
ihren Auftrag in Freiheit und Unabhängigkeit auch öffentlich
wahrzunehmen.
Hier besteht ein zentraler Unterschied zu Verfassungsordnungen
anderer Staaten zum Beispiel zur französischen Laicité. Gerade die
öffentliche Religionsfreiheit trägt dazu bei, dass Menschen ihr Leben
am besten nach ihren religiösen Überzeugungen ausrichten können. Ein
Blick auf andere Staaten zeigt uns, wie rasch und wie schutzlos
Menschen wegen ihrer Religion in Bedrängnis, Not und Verfolgung
geraten können. Die öffentliche Dimension freien religiösen Lebens
und Wirkens führt dazu, dass unterschiedliche Religionsgemeinschaften
voneinander wissen, neben- und miteinander wirken und sich
wechselseitig respektieren können. Und die öffentliche Dimension
prägt den Diskurs über die Werte und Grundorientierungen einer
Gesellschaft. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass sich in den
unterschiedlichsten Lebensbereichen, wie der Politik, der Wirtschaft,
der Wissenschaft, der Kultur und eben auch der Religion die Vielfalt
gesellschaftlicher Kräfte in Freiheit entfalten.
Gerade in jüngster Zeit sind in der Öffentlichkeit immer wieder
Forderungen laut geworden, das vom Grundgesetz gewollte und
garantierte Verhältnis von Staat und Kirche in unserem Lande zu
revidieren. Dabei wird der Begriff der Neutralität wie
selbstverständlich ohne seinen vom Grundgesetz intendierten
fördernden Impuls in Bezug auf Religionen und Weltanschauungen
verstanden, der den Vätern und Müttern des Grundgesetzes ausdrücklich
am Herzen lag. Wer so denkt, denkt nicht nur dem Buchstaben, sondern
dem Geist unserer Verfassung zuwider! Dieses Argument sollte in der
öffentlichen Diskussion nicht zu kurz kommen.
Darüber hinaus aber müssen wir immer wieder deutlich machen, wie
sehr sich das verfassungsrechtliche Konzept einer fördernden
Neutralität im Verhältnis von Staat und Religion bewährt hat. Für das
Wirken der christlicher Kirchen, jüdischen Gemeinden, muslimischen
Verbände und anderer religiöser Gruppierungen in der Bundesrepublik
Deutschland besteht eine staatliche Ordnung, die auch mit Blick auf
neue Religionskonflikte zukunftsfähig ist. Die verfassungsrechtlichen
Gewährleistungen für die Wahrnehmung der individuellen wie der
korporativen Religionsfreiheit sind so offen ausgestaltet, dass sie
Muslimen und Christen ebenso wie Anhängern anderer
Religionsgemeinschaften ermöglicht, ihr Leben bestmöglich nach ihren
religiösen Vorstellungen auszurichten. Für alle gilt dann freilich
auch, dass sie konsequent die Rechtsordnung einzuhalten haben, also
nicht die Rechte anderer verletzen dürfen und z.B. die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern anerkennen müssen.
III.
Sehr geehrte Festversammlung: Das waren nur vier Beispiele. Es
gibt so viele wunderbare Traditionsgeschichten, die wir Christen für
die Gestaltung einer im Dienste des Menschen stehenden rechtlichen
Ordnung fruchtbar machen können. Sie spielen für die rechtliche
Ordnung unserer Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Denn der
christliche Glaube und die christlichen Kirchen üben eine
"überragende Prägekraft" für die Grundlagen des Staates, die
Wertüberzeugungen und Einstellungen aus, auf denen der
gesellschaftliche Zusammenhalt beruht - so betont es ausdrücklich das
Bundesverfassungsgericht.
Wir Christen müssen diese Traditionsgeschichten nur erzählen, "zu
Haus" wie unterwegs. Und wir müssen dabei vor Augen haben, dass sie
lebendig bleiben, dass die Weitergabe von Generation zu Generation
nicht zu erstarrten Formen führt, sondern dass der Christenmensch
dabei im Recht bleibt, im Recht, dass Gott selbst für ihn ausersehen,
weil er ihn durch Christus angenommen hat.
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Reinhard Mawick
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