BERLINER MORGENPOST: Merkel und die Kobra-Plage - Leitartikel
Geschrieben am 29-05-2011 |
Berlin (ots) - In einer indischen Provinz herrschte einst eine
Kobra-Plage. Um der vielen Schlangen Herr zu werden, kam der
Maharadscha auf eine scheinbar kluge Idee: Er wollte seine Untertanen
motivieren, das Problem selbst zu lösen. Eine Kopfprämie wurde
ausgesetzt, pro Kobra gab es Geld. Und was geschah? Verschwanden die
Schlangen, weil die Menschen ihnen systematisch nachstellten? Von
wegen. Das Gegenteil passierte: Immer mehr der giftigen Reptilien
schlängelten umher; zugleich explodierten die Ausgaben. Die Menschen
hatten sich ökonomisch verhalten: Schlangen bedeuteten eine lukrative
Einnahmequelle, also wurden sie überall gezüchtet. Die an sich gute
Idee mit der Prämie verkehrte sich ins Gegenteil. Es ist nicht
erwiesen, ob die Kobra-Geschichte so stattgefunden hat. Aber sie
dient Generationen von Soziologen, ein Phänomen moderner
Gesellschaften zu illustrieren: die unerwünschten Folgen sozialen
Handelns. Das Kobra-Problem ist von jeder politischen Reform bekannt:
Die Hartz-Reformen sollten die Menschen aus dem Sozialhilfe-Gefängnis
befreien. Doch zugleich wurde eine neue Schicht von
Unterprivilegierten geschaffen, denen der Aufstieg immer noch
schwerfällt. Das Elterngeld sollte mehr Babys bringen, führte aber
vorwiegend zu einer Art bezahltem Urlaub. Die jüngste
Gesundheitsreform schließlich wollte den Wettbewerb der Versicherer
anheizen. Am Ende aber irrten hüftkranke Senioren durch die Stadt,
die nicht mehr wussten, wohin sie sich wenden sollten, weil ihre
Kasse just pleitegegangen war und die anderen Anbieter keine teuren
Neukunden wollten. Nachsteuern ist keine Schande, sondern Pflicht. Es
ist der Politik kaum vorzuwerfen, dass sie nicht alle Folgen ihrer
Entscheidungen abschätzen kann. Die Welt ist zu komplex, das
Verhalten der Menschen zu wenig berechenbar, als dass sich Resultate
präzise absehen ließen. Unternehmen geht es im Übrigen genauso: Was
Top, was Flop wird, ist von zu vielen Faktoren, oft von Glück und
Zufall abhängig. Lieber viele kleine Ziele setzen und die Chance
offenhalten, nach- oder umzusteuern. Stets gilt: möglichst keine
Versprechen für die Ewigkeit. Insofern bedeutete Angela Merkels
"Politik der kleinen Schritte" ein durchaus zeitgemäßes
Regierungsprogramm. Im Wirrwarr der letzten Monate allerdings ist die
Kanzlerin immer häufiger von der eigenen Vorgabe abgewichen: Ob bei
Energie oder Bundeswehr, bei Europa oder Nato, immer wieder traf die
Regierungschefin hektische Festlegungen, die im Nachhinein mit
doppeltem Aufwand repariert oder der Realität angepasst werden
mussten. Wehrpflicht abschaffen, Energiewende ausrufen, Euro retten,
Libyen lassen - edle Ziele, die allerdings nicht wie einstmals vom
Ende, sondern hektisch auf sofortige mediale Vermarktbarkeit hin
gedacht waren. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, der Netzausbau, die
Gebäudedämmung, das Steuerrecht - allein die Gesetze zur Energiewende
sind so komplex, dass Heerscharen neuer Kobras in Berlin nicht
überraschend, sondern selbstverständlich herumkriechen werden. Mal
sehen, wie viele bis zur Bundestagswahl 2013 wieder eingesammelt
sind.
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BERLINER MORGENPOST
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Telefon: 030/2591-73650
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