BERLINER MORGENPOST: Ein bescheidener, ein gelassener Präsident - Leitartikel
Geschrieben am 29-06-2011 |
Berlin (ots) - Mal angenommen, Joachim Gauck hätte die vergangenen
zwölf Monate als Staatsoberhaupt gedient. Wohl im Wochentakt hätten
wir Mahnendes vernehmen dürfen: zu Fukushima, EHEC, Stuttgart 21,
Gewalt in der U- sowie Unpünktlichkeit der S-Bahn. Es hätte eine
weitere Fachkraft für das stets richtige Wort gewirkt, neben Geißler,
Käßmann und den Grünen, die in hochkomplexem Gemenge bei einer nach
Einfachheit dürstenden Öffentlichkeit Moralpunkte sammeln, auch weil
sie nicht handeln müssen. Christian Wulff hat der Versuchung
widerstanden, schnelle, billige Zustimmung einzuheimsen. Eine
Antrittsansprache, die die bunte Republik anmahnte, eine große Rede
zum 3. Oktober, die seine - völlig richtigen - Vorstellungen von
Integration darlegte - das war's. Es ist zu früh, Wulffs Leistungen
zu beurteilen. Aber eine hat er bereits vollbracht: Ruhe bewahrt.
Bevorzugt absolvierte er vor allem Auftritte, die weniger medial als
inhaltlich motiviert waren, etwa 35 Prozent mehr als sein sensibler
Vorgänger. Zusammenhalt, Zukunft der Demokratie, Anerkennungskultur -
das sind die Themen des Präsidenten und für die Zukunft des Landes
allemal wichtiger als Steuersenkungsgedankenspiele. Als erstes
Staatsoberhaupt trifft sich der Niedersachse mit den Ausschüssen des
Bundestags, weil ihm die Aushöhlung des Parlaments Sorge bereitet. Er
spricht mit Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher und überlässt
bei der Berliner Rede dem polnischen Präsidenten Komorowski die
Bühne. Wulff ist bestimmt nicht kamerascheu, umso herausfordernder
mag seine Zurückhaltung sein. Nach dem eitlen Wettbewerb seiner
Vorgänger, wer wohl die historisch bedeutendere Rede halte, ist Wulff
ein angenehm stiller Präsident, nicht un- aber überpolitisch,
provozierend immun gegen die alltägliche Hysterie um wenig bis
nichts. Einfach mal die Klappe halten, das ist die subversivste
Haltung, die sich ein Öffentlichkeitsmensch heutzutage leisten kann.
Und die Deutschen schätzen diesen Stil. Über 80 Prozent sind
zufrieden mit dem Neuen im Bellevue. Wer hätte das vor einem Jahr
gedacht, als die Kanzlerin scheinbar einen Verlegenheitskandidaten
präsentierte. Wulffs größte Tugend ist wohl seine Beharrlichkeit,
gewachsen in drei Schlappen im Rennen um das Amt des
Ministerpräsidenten. Gelassen erträgt er die erwartbare Aufregung
über eine Selbstverständlichkeit wie "Der Islam gehört zu
Deutschland". Gelassen lässt er den vielen empörten Briefeschreibern,
die seine Rede nicht gehört, sondern nur einen Halbsatz gelesen
hatten, die Rede in Gänze zuschicken. Gelassen wagte er einige Wochen
später bei seinem Besuch in Ankara den ungleich mutigeren Satz, dass
das Christentum zur Türkei gehöre - aber das ging natürlich unter.
Nicht polarisieren, sondern Gemeinsamkeiten entdecken zu wollen -
Wulff mutet sich das Abenteuer des ganz Normalen zu und hält seine
Weihnachtsansprache im Kreise von 200 Freiwilligen. Ist der
Bescheidenheitsgestus echt oder aufgesetzt? In der "Sansibar" auf
Sylt immerhin verließ Wulff artig den Tisch, als der Wirt der
Promi-Schwemme ihn darauf hinwies, dass hier demnächst reserviert
sei. Viele andere hätten eine Welle gemacht. Deutschland hatte schon
Präsidenten, die lauter, aber schwächer gestartet sind.
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