junge Welt: Selektive Meinungsfreiheit
Berliner Staatsanwaltschaft wirft der jungen Welt mangelnde Zensur vor
Geschrieben am 08-07-2011 |
Berlin (ots) - Dem Chefredakteur der in Berlin erscheinenden
Tageszeitung junge Welt, Arnold Schölzel, wird von der Berliner
Staatsanwaltschaft vorgeworfen, seine Verpflichtungen verletzt zu
haben, weil er den Abdruck eines Beitrags nicht verhindert habe. Das
Amtsgericht Tiergarten stellte deshalb einen Strafbefehl in Höhe von
4.800 Euro zu. Schölzel kündigte am Freitag in Berlin an, dagegen
Einspruch zu erheben. Der Angriff der Berliner Justiz sei ein
weiterer Versuch, die Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken.
Es geht um einen Artikel der linken Aktivistin Inge Viett (jW vom
04.01.11), um den die junge Welt in Vorbereitung der
Podiumsdiskussion "Wege zum Kommunismus" im Rahmen der
Rosa-Luxemburg-Konferenz gebeten hatte. Viett meint darin unter
anderem, daß das kapitalistische Gewaltmonopol nicht naturgegeben
sei. Wenn Deutschland beispielsweise Krieg führe, sei das Abfackeln
von Bundeswehrausrüstung eine legitime Antikriegsaktion - wie
Sabotage im Betrieb an Rüstungsgütern, illegale Streikaktionen usw.
"Weil diese Sicht der Dinge nicht jedem passt, wird gegen Viett
ermittelt und gegen die jW ein Strafbefehl erlassen. Mit der
Begründung, der Chefredakteur habe seine Verpflichtung verletzt.
Seit wann aber ist der verpflichtet, Beiträge im Interesse bestimmter
politischer, polizeilicher und juristischer Kreise zu zensieren?"
heißt es in der Samstagsausgabe der jungen Welt dazu.
Ein solches Vorgehen gegen die Tageszeitung junge Welt ist nicht
neu. Bereits vor einigen Monaten warf die Berliner Staatsanwaltschaft
dem jW-Chefredakteur vor, ein Interview in der jungen Welt, in dem
der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe,
nach ihrer Ansicht beleidigt worden sei, nicht verhindert zu haben.
Die Staatsanwaltschaft unterlag jedoch in allen Instanzen. Am 1. März
2011 wurde der Geschäftsführer der jungen Welt vom Berliner
Polizeipräsidenten vorgeladen, weil in der jW-Berichterstattung zu
den Castortransporten im Oktober 2010 eine "öffentliche Aufforderung
zu Straftaten" gesehen wurde. Am 29. März 2011 folgte eine Vorladung
für den Chefredakteur, diesmal wegen "Belohnung und Billigung von
Straftaten (Presseinhaltsdelikt)". Am 17. Juni wurde von Berliner
Behörden eine Kundgebung der NPD gezielt vor die Verlagsräume der
jungen Welt gelenkt, wie Polizisten Mitarbeitern der jungen Welt
berichteten. Nach Abzug der Nazis kam es zu Übergriffen der Polizei
unter anderem auf den Geschäftsführer der jungen Welt. Auch hier
wurden juristische Konsequenzen angekündigt - von der Polizei.
Stefan Huth, Vorsitzender der Linken Pressegenossenschaft LPG
junge Welt eG, die Mehrheitseigentümerin der jungen Welt ist, sieht
in den ständigen Attacken Berliner Behörden einen gezielten Angriff,
der die Arbeit der jW und ihre Marktentwicklung behindern soll. Nach
Ansicht von Geschäftsführer Dietmar Koschmieder soll auch mit der
Nennung der jungen Welt im Verfassungsschutzbericht 2010 als
"einflußreichstes linksradikales Medium" die Zeitung diskreditiert
werden. Obwohl es ein höchstrichterliches Urteil gibt, nachdem gerade
die Beeinflussung der Marktmöglichkeiten durch solche Meldungen im
Verfassungsschutzbericht nicht zulässig ist. Bei allen Angriffen
handele es sich letztlich um die Frage, ob eine linke Meinung und
Position öffentlich vertreten und diskutiert werden dürfe, so
Koschmieder. Nach der Logik von Berliner Staatsanwaltschaft und
Verfassungsschutzbehörden wäre demnach schon das Vertreten von
Meinungen, die sich auf Marx, Engels oder Lenin beziehen, erklärte
der jW-Geschäftsführer.
Laut Berliner Amtsrichter Peck werde durch die Veröffentlichung
des Diskussionsbeitrags von Inge Viett die Leserschaft der Zeitung
aufgefordert, "die verfassungsgemäße Ordnung und das friedliche
Zusammenleben der Bevölkerung zu untergraben". Am Freitag haben sich
die ersten Leser schon zu Wort gemeldet. Täve Schur, mehrfacher
Straßenradweltmeister und 1989 zum beliebtesten Sportler der
DDR-Geschichte gewählt, hält das Vorgehen von Verfassungsschutz und
Berliner Justiz gegen die junge Welt für einen Angriff auf die
Pressefreiheit. "Attacken dieser Art sind politisch motiviert und
sollen eine unbequeme Stimme letztlich zum Verstummen bringen", so
Schur am Freitag gegenüber junge Welt.
Pressekontakt:
Für Stellungnahmen ist der jW-Geschäftsführer Freitag bis 20 Uhr
unter 030/ 53 63 55-19 zu erreichen.
Redaktion junge Welt
redaktion@jungewelt.de
Telefon: 030/53 63 55-0
www.jungewelt.de
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