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WAZ: Politik gegen Finanzindustrie - Leitartikel von Ulrich Reitz

Geschrieben am 05-12-2011

Essen (ots) - Steht Europa vor einer deutschen Machtergreifung?
Helmut Schmidt hat diese Frage aufgeworfen, als er vor
"deutschnationaler Kraftmeierei" warnte. Die Antwort heißt aber
eindeutig: Nein. Derzeit passiert etwas anderes in Europa. Gerade die
Südländer begreifen, dass die ungehemmte Verschuldung der vergangenen
Jahre ein großer Fehler war. An dieser Erkenntnis ist nicht Merkel
Schuld, sondern sie stammt von den Finanzmärkten. Sie haben
politische Macht. 50 (!) Misstrauensvoten konnte Italiens Berlusconi
überleben, erst die Herabstufung seines Landes zum unsoliden
Schuldner hat ihn aus dem Amt gefegt. Merkel und Frankreichs Sarkozy
sprechen stets vom nötigen "Vertrauen der Märkte". Das muss man
übersetzen. Dann wird daraus eine unangenehme Wahrheit: Auf
Krisengipfeln beschließen Staaten Maßnahmen, um den Euro zu stützen.
Am nächsten Morgen entscheiden die Börsen, ob sie das ausreichend
finden. Wenn nicht, fordern sie Nachbesserungen. In der Regel liefert
die Politik, weil sonst die Finanzindustrie den Staaten den Geldhahn
zudreht. Man kann sich über diesen Mechanismus aufregen. Hedgefonds
haben kein politisches Mandat. Niemand hat sie gewählt. Allerdings
fühlen sie sich ihren Kunden verpflichtet; Pensionsfonds zum
Beispiel, die durch zu hohe Staatsschulden Sicherheit und
Rentabilität der ihnen anvertrauten Renten aufs Spiel gesetzt sehen.
Manche, die eine Verschiebung der Macht zur Finanzindustrie beklagen,
handeln scheinheilig. Gegen solide Staaten wird ein Hedgefonds kaum
wetten. Das führt zum Kern: Falls Merkel, Sarkozy und den solideren
Nordländern die Euro-Operation gelingt, entzieht dies der Spekulation
den Boden. Merkel und Co. wollen nicht Europa kapern, sondern die
Politik wieder in ihr Recht setzen. Dies kann aber nur gelingen, wenn
Europa keine Schuldenunion wird. Ein stabiler Euro, abgesichert über
strenge Spielregeln, die für alle gelten und über die Brüssel wacht:
Das ist das Ziel der Koalition der Retter. Wird es erreicht, kann man
auch über eine Art gegenseitiger Haftpflicht reden, also auch über
Eurobonds. Fazit: Der Preis für die Euro-Rettung ist: Mehr Brüssel
und weniger Berlin, Paris, Rom, usw. Europa geht, weniger aus
politischem Antrieb, mehr unter dem Druck der Finanzmärkte, einen
Schritt in Richtung Vereinigte Staaten von Europa. Falls diese
riskante Operation nicht doch scheitert.



Pressekontakt:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Zentralredaktion
Telefon: 0201 / 804-6528
zentralredaktion@waz.de


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