Westdeutsche Zeitung: Frankreichs Armenien-Gesetz bringt die Türkei in Rage - Wahlkampftaktik trifft auf Nationalstolz
Ein Kommentar von Lothar Leuschen
Geschrieben am 23-12-2011 |
Düsseldorf (ots) - Die Nato-Staaten Türkei und Frankreich liegen
im Clinch. Fast scheint es, als sei das Tischtuch zerschnitten. Die
Türkei hat ihren Botschafter aus Paris abberufen und hegt derzeit
keinerlei Interesse an Diplomatie. Frankreichs Präsident Sarkozy ist
in Ankara eine Persona non grata, seit er sich für das jetzt
verabschiedete Genozid-Gesetz starkgemacht hat. Es stellt auch die
Leugnung des Völkermords an Armeniern unter Strafe.
Die Türkei will nicht mit dem Schicksal Hunderttausender Armenier
in Verbindung gebracht werden, die von 1915 bis 1917 ihre Heimat oder
gar ihr Leben verloren. Genau auf diesen Hinweis aber zielt das
französische Gesetz ab. An dieser Stelle treffen türkischer
Nationalstolz und französische Wahlkampftaktik aufeinander. Denn
viele Nachfahren der Armenier haben in Frankreich ein Zuhause
gefunden und sind eine beträchtlich große Wählergruppe. Ihnen zu
gefallen, ist Sarkozys Ziel.
Der türkische Regierungschef Erdogan gibt dagegen den Anwalt eines
Volkes, in dessen Geschichtsschreibung es keine dunklen Kapitel gibt.
Das Selbstverständnis der Türkei ist das einer "sauberen Nation".
Dazu zählt auch, dass es im Osmanischen Reich, dem Vorgängerstaat der
Türkei, einen Völkermord nicht gegeben haben kann.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Streit, der vor allem von
Erdogan unerbittlich und äußerst undiplomatisch geführt wird. Er
wirft den Franzosen Völkermord in Algerien vor. Die Schärfe des
Streits wundert den Rest Europas. In Zeiten, in denen etwa die
Staaten der Europäischen Union darum ringen, durch fundamentale
Gemeinsamkeit den Weg aus der Schuldenkrise zu finden, wirken derart
nationalistische Töne irritierend. Und das vor allem aus dem Munde
eines Politikers, der mit aller Macht darauf dringt, mit seinem Staat
Teil genau dieser Gemeinschaft zu werden.
Aus diesem Grund verhält sich der starke Mann der Türkei derzeit
nicht sonderlich geschickt. Zwar versucht er gleichzeitig, seinen
Staat zum politischen Oberzentrum des Nahen Ostens zu machen. Aber
vor allem wirtschaftlich kann die Zukunft der Türkei nur in Europa
liegen. Und ein Europa ohne Frankreich wird es ebenso wenig geben wie
eine Mitgliedschaft der Türkei gegen den Willen der Franzosen.
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Westdeutsche Zeitung
Nachrichtenredaktion
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