Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Ägypten
Geschrieben am 22-01-2012 |
Bielefeld (ots) - Vor einem Jahr stürmten mutige Aktivisten auf
den Kairoer Tahrir-Platz und forderten den Regimewechsel. Erst
demonstrierten Zehntausende, dann Hunderttausende gegen den Diktator
Hosni Mubarak. Sie hatten genug von Korruption, Misswirtschaft und
Unterdrückung und riefen nach Freiheit und Demokratie. Drei Wochen
später trat Mubarak zurück. Die Revolution hatte gesiegt.
Doch wie substanziell ist dieser Sieg? Ist der Wandel zur
Demokratie tatsächlich gelungen? Leider ergibt sich eine gemischte
Bilanz. Die Menschen haben zwar die Diktatur beseitigt, doch sie sind
vom Regen in die Traufe gekommen: Statt Hosni Mubarak herrscht nun
der Militärrat mit eiserner Hand. Militärtribunale, Polizeiwillkür,
Demonstrationsverbote und staatliche Unterdrückung verhindern
Liberalisierung und Demokratisierung. Angeblich wurden 12 000
Menschen seit Frühjahr 2011 von Militärgerichten abgeurteilt. Und die
Generäle - einst »Retter der Revolution« - wollen die Macht nicht
abgeben. Dann wäre die Revolution endgültig gescheitert.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch hoffen viele, dass die
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen eine pluralistische Demokratie
hervorbringen. Denn inzwischen hat Ägypten frei gewählt. Dabei wurden
aber die islamistischen Muslimbrüder mit 47 Prozent die stärkste
Kraft, gefolgt von der radikal-islamistischen »Partei des Lichts«,
die 24 Prozent gewinnen konnte. Die weltlich orientierte Ägyptische
Allianz erreichte nur den dritten Platz.
Nun befürchten liberal-demokratische Ägypter, die Islamisten und
Salafisten könnten das Land in einen »Gottesstaat« verwandeln.
Besonders die radikalen Salafisten boykottieren die Demokratisierung.
Sie stecken hinter den jüngsten Anschlägen auf christliche Kirchen,
bekämpfen religiöse Minderheiten und weltliche Parteien und fordern
die Geschlechtertrennung am Strand und in Bussen.
Die demokratische Revolution droht somit, zwischen Militärdiktatur
und »Gottesstaat« zerrieben zu werden. Ein Jahr nach der Revolution
steht das politische Schicksal Ägyptens auf der Kippe. Der Weg zur
Demokratie bleibt steinig und gefährlich.
Dennoch wäre es voreilig, Demokratie in Ägypten schon heute
abzuschreiben. Wenn sich das Parlament konstituiert hat, soll eine
neue Verfassung entstehen und die Macht vom Militär auf die
Zivilregierung übergehen. Allerdings weiß niemand, ob die Verfassung
liberale Rechtsprinzipien enthalten wird oder einen
fundamentalistischen Staat wie Saudi-Arabien begründet. Ein
inner-ägyptischer Kulturkampf zeichnet sich ab.
Noch besteht Hoffnung, dass sich die Demokratie in der
unvollendeten Revolution durchsetzt. Sollten sich die Ägypter aber
mehrheitlich für einen religiös-fundamentalistischen Staat
entscheiden, müssten wir dies respektieren. Jedes Volk hat das Recht,
seinen eigenen Weg zu gehen.
Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261
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