Mittelbayerische Zeitung: Akten-Lotterie
Geschrieben am 05-07-2012 |
Regensburg (ots) - Von Reinhard Zweigler
Analytische Engführung - dieser bürokratisch gedrechselte Begriff
von Noch-Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm war gestern das Wort
des Tages. Vor dem Berliner Untersuchungsausschuss bemäntelte der
scheidende Geheimdienst-Chef mit diesen kruden Worten das völlige
Versagen seines Bundesamtes beim blutigsten Angriff von
Rechtsextremisten auf die Gemeinschaft seit Bestehen der
Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt zehn Menschen fielen der
Zwickauer Terrorzelle zum Opfer. Vor allem Geschäftsleute, die
zufällig ausgewählt und kaltblütig erschossen wurden. Auch eine junge
Polizistin starb im Kugelhagel der Neonazis, ihr Kollege wurde schwer
verletzt. Bei all diesen Morden, die nach dem gleichen Schema
abliefen, wollen die Sicherheitsbehörden, Verfassungsschutz,
Bundeskriminalamt und Länderpolizeien keinen Zusammenhang und keine
Hinweise auf den rechtsextremen Hintergrund entdeckt haben. Es fällt
schwer, das zu glauben. Schlimmer und mysteriöser noch ist es, dass
wenige Tage nach der Enttarnung des Killer-Trios ein
Verfassungsschützer brisante Akten vernichten ließ. Warum das
geschah, konnten gestern weder der betreffende Beamte, noch Präsident
Fromm überzeugend klären. Sie konnten mit ihren verquasten
Erklärungen oder vielsagendem Schweigen jedenfalls den Verdacht nicht
entkräften, dass der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind
ist. Hat man im Kölner Bundesamt wirklich geglaubt, dass die Gefahr
für unsere freiheitliche Grundordnung eher von chaotischen
Linksextremen als von Rechtsextremen ausgeht, die man im Blick zu
haben glaubte? Weitere Klärung ist notwendig. Wieso etwa kann ein
Abteilungsleiter so einfach brisante Unterlagen vernichten? Dass die
verbeamteten Schlapphüte wirklich Akten nach einer Art
Lotterie-Verfahren in den Reißwolf gaben, glauben nicht einmal
Milchmädchen. Gab es eine Weisung aus der Präsidenten-Etage? Wurde
damit eine tiefere Verstrickung von V-Leuten des Amtes in das
rechtsextreme Umfeld des Mörder-Trios vertuscht? Und notwendigerweise
ist die Frage nach der politischen Verantwortung zu stellen. Was
haben die damaligen Bundesinnenminister Otto Schily und Wolfgang
Schäuble gewusst, wann hat der jetzige Minister Hans-Peter Friedrich
was erfahren? Es tun sich vor allem zwei Konsequenzen auf: Entweder
der Verfassungsschutz führte ein mysteriöses Eigenleben und die
verantwortliche Politik wusste nichts davon oder das
Bundesinnenministerium wusste Bescheid, tat aber nichts. In beiden
Fällen haben wir es nicht nur mit einem skandalösen Versagen des
Verfassungsschutzes, sondern auch mit einem Fiasko der politischen
Aufsicht zu tun. Das Bauernopfer des Rücktritts von
Verfassungsschutz-Präsident Fromm jedenfalls ist kein Beitrag zur
Aufhellung der trüben Geheimdienst-Brühe. Es muss weiter und viel
tiefer gebohrt werden. Dass Friedrich nun einen eigenen Aufklärer
einsetzt, ist ein gutes Zeichen. Dass der Mann jedoch aus dem
Berliner Innenministerium kommt, das ohnehin die Dienstaufsicht über
den Geheimdienst hat, nährt den Verdacht, hier solle eine Krähe der
anderen kein Auge aushacken. Der Verfassungsschutz, dem mit dem Fall
der Mauer neue Aufgaben zuwuchsen, etwa der Schutz vor religiösen
Extremisten oder vor Wirtschaftsspionage, steckt in seiner tiefsten
Krise. Ihn abzuschaffen, wie dies nun von einigen gefordert wird,
wäre ein Fehler. Dass er aber grundlegend reformiert gehört, steht
außer Frage.
Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de
Kontaktinformationen:
Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.
Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.
Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.
http://www.bankkaufmann.com/topics.html
Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.
@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf
E-Mail: media(at)at-symbol.de
405289
weitere Artikel:
- Rheinische Post: Geheimdienst-Panne Düsseldorf (ots) - Ein Kommentar von Gregor Mayntz:
Niemand konnte erwarten, dass der NSU-Ausschuss auf eine
funktionierende Sicherheitsarchitektur stoßen würde. Wo ein wegen
Hantierens mit Sprengstoff gesuchtes Trio dauerhaft untertauchen und
eine Serie von zehn Morden begehen kann, da muss viel im Argen
liegen. Die Einblicke, die der scheidende Verfassungsschutz-Chef
Heinz Fromm gewährte, lassen erschaudern. Der erfahrene
Referatsleiter, der zum brisanten Zeitpunkt einschlägige Akten
vernichtet und seine Vorgesetzten belügt. mehr...
- Rheinische Post: Euro-Mahner aus der Studierstube Düsseldorf (ots) - Ein Kommentar von Antje Höning:
Das macht Eindruck: Gleich 160 Wirtschaftsprofessoren haben einen
offenen Brief unterzeichnet, mit dem sie gegen die Euro-Politik von
Angela Merkel protestieren. Mit Sätzen wie "Gerettet wird nicht der
Euro, geholfen wird der Wall Street" treffen sie den Nerv vieler
Bürger, die fürchten, ihr Steuergeld werde zur Finanzierung von
Investmentbanker-Boni missbraucht. Sind die Deutschen die Deppen
Europas? Kann die Kanzlerin es nicht? Gemach. Nach Fehlern zu Beginn
der Griechenland-Krise mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Gesellschaft / Kirchen / Grüne Osnabrück (ots) - Muslime, vereinigt euch
Die Forderung einer Gleichstellung der Muslime mit christlichen
Kirchen und Judentum klingt zunächst einmal gar nicht verkehrt: Der
Islam ist schließlich eine der drei Weltreligionen. Und es war der
frühere Bundespräsident Christian Wulff, der goldrichtig bemerkte,
dass der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehört. Der Bedeutung
dieser Religion sollte mehr Gewicht beigemessen werden.
Aber die rechtliche Gleichstellung, wie die Grünen sie fordern,
ist nicht so einfach zu bewerkstelligen. mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Gesundheit / Down-Syndrom Osnabrück (ots) - Die Debatte läuft falsch
Ein Kind abzutreiben, weil es Trisomie 21 hat: Diese Entscheidung
ist kaum begreiflich für jemanden, der Angehörige, Freunde oder, auch
das gibt es, Kollegen mit Downsyndrom hat. Es ist entsetzlich, dass
die Abtreibungsrate in dieser Gruppe von Schwangerschaften bei 90
Prozent liegt. Für Behinderte hält diese Zahl eine schlimme Botschaft
bereit, aber nicht nur für sie: Wer möchte denn in einer Gesellschaft
leben, krank sein, alt werden, in der die Angst vor mangelnder
Leistungsfähigkeit mehr...
- Badische Neueste Nachrichten: Machtpolitisch eingefärbt Karlsruhe (ots) - In Bürgerkriegen wollen die kämpfenden Gruppen
den Gegner nicht nur besiegen, sondern ihm auch die eigene Lebensform
aufzwingen. Deshalb sind Bürgerkriege meist sehr grausame Kriege, wie
man jetzt in Syrien sieht. Appelle von außen finden kaum Gehör. Weder
das Assad-Regime noch die Rebellen wollen sich den Ratschlägen der
UN-Beobachter beugen. Richtig ist, dass in Syrien ein ungleicher
Kampf tobt. Die Truppen Assads sind dem Gegner überlegen. Das
verleitet den Westen dazu, sich auf die Seite der syrischen
Opposition mehr...
|
|
|
Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten
Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:
LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre
durchschnittliche Punktzahl: 0 Stimmen: 0
|