Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Weltweit Demonstrationen
Rio ist überall
CARSTEN HEIL
Geschrieben am 21-06-2013 |
Bielefeld (ots) - Rio de Janeiro, Sao Paulo, Istanbul, Kairo,
Tunis - auch wenn Demonstrationen und Umstürze nicht unbedingt zu
vergleichen sind, fällt doch auf, dass deren Gründe sich seit einigen
Jahren weltweit zunehmend ähneln. Es sind nicht mehr die
Umsturzversuche aus Macht- oder wie in der Geschichte oft geschehen
aus sozialen Gründen (Hungeraufstände). In allen genannten Ländern
und Städten sind es nicht die unteren Schichten, nicht die Ärmsten,
die sich erheben. In Kairo fegte eine gut ausgebildete, der
Mittelschicht angehörende Gruppe den Diktator Mubarak hinfort. In
Tunis waren es mit den neuen Medien gut vernetzte junge Leute,
Künstler und Intellektuelle, die genug zum Leben haben, denen aber
die Aufstiegs-Perspektive fehlte, die Freiheit wollten. In Istanbul
geht es nicht um soziale Fragen, sondern um
gesellschaftliche-demokratische Freiheiten. Und aktuell in Brasilien
steht längst nicht mehr die flugs zurückgenommene Fahrpreiserhöhung
des Nahverkehrs auf dem Programm, sondern gesellschaftliche Teilhabe,
Gerechtigkeit für die Mittelschicht, Investitionen in Bildung und
Infrastruktur, die erschreckende Korruption der herrschenden Elite.
Die Bewohner der Favelas haben bislang nichts mit den Protesten zu
tun. Und wie reagiert in allen Fällen der Staat, egal ob er
diktatorisch ist wie im Falle Ägyptens oder sich demokratisch nennt
wie in Brasilien und der Türkei? Mit Gewalt. Was in Kairo nicht
verwundert, ist einer Demokratie wie in Brasilia und Ankara unwürdig.
Doch halt. Ein vorschnelles Urteil verbietet sich. Wie ist denn die
Polizei vor drei Wochen in Frankfurt gegen die Bloccupy-Proteste
vorgegangen? Vernünftige, aufgeklärte, gut situierte Menschen - wenn
man so will die Mittelschicht - wollte gegen die Macht, die
Skrupellosigkeit, die Geldversessenheit der Banken demonstrieren -
und wurden prompt von der deutschen Polizei eingekesselt, ihres
grundgesetzlich verbrieften Demonstrationsrechtes und ihrer Freiheit
beraubt. Auch in Madrid und New York sind vor Jahresfrist die
Occupy-Protestcamps mit Gewalt geräumt worden. Die Mittel sind nur
teilweise andere als in Istanbul und das Ziel ist gleich: Hauptsache
Ruhe. Auch in Demokratien. Dabei muss eine Demokratie, statt
Demonstrationen zu verhindern, dafür sorgen, dass die Ressourcen
gerecht verteilt werden, dass Teilhabe und Perspektive für alle
möglich ist. Sie muss ihre Mittelschicht ernst nehmen und pflegen,
damit die stark genug bleibt, für die ganz Schwachen zu sorgen. Da
sind auch in Europa und Deutschland Defizite erkennbar: Zu hohe
Belastungen, schwieriger werdende Perspektiven, mangelnde
Unterstützung, Konzentration auf Gewinnmaximierung für die Starken.
Wenn Infrastruktur, Bildungseinrichtungen, Unterstützung verlottern,
wenn nicht genug Förderung für Kinder angeboten wird, verschwinden
gut ausgebildete und fleißige Jugendliche in der Arbeitslosigkeit.
Dann wird sich auch Westeuropa auf mehr Demonstrationen einstellen
müssen. Rio kann überall sein.
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Neue Westfälische
News Desk
Telefon: 0521 555 271
nachrichten@neue-westfaelische.de
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