Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar
Vor 100 Jahren trat Deutschland in den Ersten Weltkrieg ein
Mahnungen eines Jahrhunderts
THOMAS SEIM
Geschrieben am 31-07-2014 |
Bielefeld (ots) - Ukraine, Israel, Libyen, Irak, Syrien, Nigeria -
der Krieg macht sich wieder sehr breit zum Anfang dieses
Jahrhunderts. China rüstet sich auf Augenhöhe mit den USA im
pazifischen Raum. Saudi-Arabien ringt mit dem Iran um die
Vorherrschaft in der islamischen Welt. Knapp 60 Jahre lang gaben die
USA auf den verschiedenen Konfliktfeldern der Erde den Ton an. Auch
da gab es kriegerische Auseinandersetzungen, aber spätestens seit dem
Fall des Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren galt die unangefochtene
Vorherrschaft der Vereinigten Staaten, die eine Art Pax Americana -
einen amerikanischen Frieden - weitgehend garantieren konnten. Doch
100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs lösen sich alle diese
gewohnten Ordnungsprinzipien plötzlich auf. Europa hat sich ganz
gemütlich eingerichtet in der bisherigen Welt. Seit der Einheit
wächst insbesondere in Deutschland unser Wohlstand in Frieden. Sicher
aber ist davon nichts. Weder der Wohlstand noch der Frieden. Das ist
die erste Lehre der eskalierenden Ukraine-Krise. In der Konfrontation
zwischen Russland und dem Westen in der Ukraine geht es nicht nur um
Krieg und Frieden. Es geht auch darum, ob das Ordnungsprinzip der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der der
Westen wie Russland angehören, künftig noch gilt. Dieses
Ordnungsprinzip verbietet die Annexion von Staaten oder Teil-Staaten
- eine entscheidende Grundlage für Sicherheit und Waffenruhe im alten
Kontinent. Bis zur Krim-Krise hat sich Russland daran gehalten - mit
Ausnahme von Afghanistan. Seit der Ukraine-Krise aber steht diese
Garantie endgültig und grundsätzlich in Frage. Das kann der Westen,
kann Europa nicht hinnehmen. In der Ukraine, die nicht dem westlichen
Verteidigungsbündnis NATO angehört, geht es dabei nicht etwa um den
Bündnisfall. Gottlob! In den europäischen Hauptstädten wird
allerdings mit großer Sorge die Umkehr des russischen Präsidenten
registriert, seine Abkehr vom demokratischen Wettbewerb mit dem
Westen, seine offensichtliche Zuwendung zu einem neuen russischen,
auf die russisch-orthodoxe Kirche gestützten Nationalismus, der im
Bündnis mit China seine euro-asiatische Wirtschaftszukunft sieht. Die
alte Weltordnung zerfällt also, und es gibt keine Garantiemacht mehr,
wie es die USA über Jahrzehnte waren. Die letzte verbliebene (Noch-)
Weltmacht hat genug damit zu tun, sich selbst zu modernisieren und
ihre Grenzen am Pazifik zu schützen. Anders als vor 100 Jahren gibt
es keine Automatismen in Richtung Krieg. Beistandspakte militärischer
Art, wie sie vor 100 Jahren Österreich beim Deutschen Reich geltend
machte und durchsetzte, sind nicht geschlossen. Die NATO ist
ausschließlich ausgerichtet auf Verteidigung. Das ist gut so.
Beruhigen kann das nicht. Was nämlich, wenn plötzlich die baltischen
Staaten für Russland interessant werden? Dort gilt Artikel 5 des
NATO-Vertrages, und der Bündnisfall müsste dann zum Krieg führen
mitten in Europa. Niemand will das. Aber wie Ende der 1970er Jahre
mahnen NATO-Partner, diesmal die im ehemaligen sowjetischen
Einflussbereich, immer heftiger Solidarität, Waffen, Raketen-, auch
Truppen-Stationierung an. Dieser Automatismus der NATO-Solidarität
muss beunruhigen. Die alte Weltordnung zerfällt. Es wird lange
dauern, bis die Suche nach einer neuen wieder in das Gleichgewicht
eines neuen Friedens führt. Eine Sisyphos-Arbeit, die Geduld und
langen Atem erfordert. Es könnte die Stunde der Europäer sein. Sie
müssten sich allerdings darauf besinnen, dass nur Einigkeit und
Eindeutigkeit ihnen eine relevante Stimme gibt, auf die der Nahe
Osten, Libyen, Irak, Syrien, Nigeria achten - und die Putin versteht.
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