Zehnkampf-Olympiasieger Willi Holdorf: "Tokio 1964 war wie eine Reise zum Mond"
Geschrieben am 14-10-2014 |
Frankfurt am Main (ots) - Der "König der Athleten" über das
"Abenteuer Tokio", über die Ost-West-Ausscheidung vor den Olympischen
Spielen 1964 und das Verhältnis mit den damaligen DDR-Athleten, warum
er bereits mit 24 Jahren seine Karriere beendete und über die Chancen
der deutschen Zehnkämpfer in Rio 2016.
Vor 50 Jahren, am 20. Oktober 1964, führt der Zehnkämpfer Willi
Holdorf bei den Olympischen Spielen in Tokio in einem der
bekanntesten Zweikämpfe der Sportgeschichte: Im abschließenden
1500-Meter-Lauf darf er maximal 18 Sekunden auf Rein Aun aus der
Sowjetunion verlieren. Anschließend gehen die Bilder des entkräfteten
Goldmedaillengewinners um die Welt. Das Mitglied der "Hall of Fame
des deutschen Sports" im Sporthilfe-Interview.
Heutzutage wissen die Athleten sofort, wie viele Punkte sie
gemacht haben, wie der Abstand zu den Mitstreitern ist. Wie war das
1964? War Ihnen bewusst, dass Sie maximal 18 Sekunden auf den
Zweitplatzierten verlieren durften?
Ja, mein Trainer hatte das draußen ausgerechnet und mir das dann
gesagt. Das Spannende war ja, dass ich in jenem Jahr nur eine
schlechte 1500-Meter-Leistung hatte und der Este Aun eine um 30
Sekunden bessere Zeit. Ich wusste aber, dass ich schneller laufen
kann, als ich das bisher getan hatte.
Auf den letzten Metern wurde Ihnen schwarz vor Augen. Sie waren
nur zwölf Sekunden langsamer, blieben 14 Sekunden unter der eigenen
Bestzeit. Wussten Sie schon im Ziel, dass es zu Gold gereicht hat?
Nein, im Ziel nicht. Aber wie ich da so auf der Aschenbahn lag, da
habe ich meinen Trainer gesehen, und der lachte. Da dachte ich: Na,
wenn der lacht, da wirst du nicht verloren haben.
Eine enorme Willensleistung.
Es ist bei Olympischen Spielen natürlich einfach, sich mal
zusammenzureißen. Ich bin unbelastet in den Wettkampf gegangen. Zwar
wusste ich, dass ich eine Medaille gewinnen kann, aber großer Favorit
war ein Chinese, der in den USA studierte, der war eigentlich
übermächtig. Im Grunde genommen war ich froh, dass ich teilgenommen
habe. Dass ich gewinnen kann, merkte ich nach dem ersten Tag, als ich
in Führung lag. Dann wird es eben ein bisschen spannend. Aber wenn
ich an die Athleten heute denke, oder an Jürgen Hingsen: Der wusste
1984 in Los Angeles, wenn er jetzt den Diskus weit wirft, dann muss
er niemals mehr arbeiten. Das ist schon eine riesige Belastung. Wir
sind dagegen viel unbelasteter rangegangen.
Was ist Ihnen von den beiden Wettkampftagen damals noch prägend in
Erinnerung? Beim Stabhochsprung standen Sie schon mit dem Rücken zur
Wand.
Ja, da habe ich die vorletzte Höhe erst im dritten Versuch
geschafft. Wenn ich da nicht drüber gekommen wäre, würden wir heute
nicht miteinander sprechen. Aber es ist ja nochmal gut gegangen.
Vor Tokio mussten Sie durch die Ost-West-Ausscheidung, es gab ja
noch die gemeinsame Olympiamannschaft.
Das war eigentlich mein schönster Wettkampf - und eine größere
Belastung als die Olympischen Spiele. In Jena hat sich damals
entschieden: Kommst du mit nach Tokio oder nicht? Wenn du der mit
Abstand Beste warst, aber holst dir eine Zerrung, dann bleibst du zu
Hause. Ich erinnere mich noch an den Hürdenlauf, da waren vier
Hürdenbahnen aufgestellt, und ich hatte eine Außenbahn. Da habe ich
gesagt, ich laufe nicht. Ich wollte wie die anderen eine Hürde neben
mir haben, denn dann kann keiner sagen, ich hätte das Bein an der
Hürde vorbeigezogen. Ich hatte Angst, ein internationaler
Schiedsrichter könnte nachher so urteilen. Schlussendlich haben sie
dann links und rechts neben den vier Bahnen weitere Hürden
aufgestellt. Man hatte eben Schiss.
Wie war das Verhältnis zu den Ost-Sportlern damals -
freundschaftlich, tauschte man sich aus, oder herrschte Schweigen und
Konkurrenzkampf?
Unser Verhältnis war freundschaftlich. Was überraschend war: Die
Zuschauer in Jena haben uns mehr angefeuert als ihre eigenen Leute.
Wir Westdeutschen waren damals überlegen, es war klar, dass drei von
uns die Qualifikation schaffen würden.
Und dann ging es nach Tokio. Ein Abenteuer?
Das war für uns so eine weite Reise, wie wenn man mir heute sagen
würde, ich müsste zum Mond fliegen. Unendlich weit weg. Ich bin in
der Nähe von Hamburg groß geworden, in Glückstadt an der Elbe. Ich
musste 19 Jahre alt werden, um mal über Hamburg hinaus zu kommen. Das
kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es ging über
Kopenhagen über den Nordpol nach Anchorage, Alaska. Da hatten wir ein
paar Stunden Aufenthalt. Damals durften wir ja nicht über die
Sowjetunion fliegen.
Sie haben direkt nach Ihrem Olympiasieg aufgehört, mit 24 Jahren.
Warum so früh?
Die Konkurrenz in Deutschland war sehr groß, wenn man mithalten
wollte, musste man hart trainieren. Ich war schon verheiratet, musste
eine Familie ernähren und mich um mein Studium kümmern. 1968 habe ich
es bereut. Damals war ich als Trainer des Stabhochspringers Claus
Schiprowski bei Olympia dabei. Die schöne Kunststoffbahn in
Mexiko-Stadt wäre mir als relativ schwerer Athlet entgegengekommen.
Der Zehnkampf war in den 1960er-Jahren sehr populär, es gab viele
deutsche Erfolge. Verfolgen Sie die Szene und heutigen Wettkämpfe
noch?
Ja, ganz intensiv. Wir treffen uns auch mit den Athleten aus
meiner Zeit alle zwei Jahre, da sind die ehemaligen DDR-Athleten mit
dabei. Schön, dass man jetzt intensiv miteinander sprechen kann.
Damals im Olympischen Dorf haben wir ja nicht mal im gleichen Haus
gewohnt.
Heute ist manchmal die Rede davon, die junge Generation könne
nicht mehr so "beißen". Wie sehen Sie das?
Ich glaube es gibt auch heute noch Typen, die sich über das Maß
hinaus anstrengen können. Wenn man fünfmal Deutscher Meister geworden
ist, dann ist es beim sechsten Mal natürlich schwieriger, sich zu
verausgaben als bei Olympischen Spielen, wo sie wissen, es geht um
alles.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass die deutschen Mehrkämpfer 2016
in Rio ein gutes Bild abgeben werden?
Sehr zuversichtlich. Europameister Pascal Behrenbruch hatte sich
ja für die EM im August in Zürich gar nicht qualifiziert, Michael
Schrader, der als WM-Zweiter zuletzt der Beste war, hatte sich
verletzt. Wenn der wieder fit ist und die drei, die in Zürich gute
Leistungen gebracht haben, ihren Stabhochsprung noch verbessern, dann
mischen wir in der Weltspitze mit.
Was hat der Sport Ihnen gegeben?
Manchmal hat man es leichter, wenn man Olympiasieger ist, manchmal
auch schwerer. Wenn man eine Meinung äußert, wird die immer auf die
Goldwaage gelegt. Man muss sich überlegen, ein Urteil über etwas
abzugeben. Das kann schnell nach hinten losgehen. Der Uwe Seeler hat
jahrelang nichts Schlechtes über den HSV gesagt - zurzeit bleibt ihm
nichts anderes übrig -, aber er hat sich immer zurückgehalten.
Sie sind vorsichtiger geworden durch den Erfolg.
Ja, würde ich sagen.
Aber der Sport hat Sie geprägt?
Sehr. Ich glaube, man wird psychisch stärker für das ganze Leben.
Sie dürfen nicht vergessen: Wenn einer tagtäglich freiwillig
trainiert hat, wenn er das ein bisschen in den Berufsalltag mit
reinbringt, nur einige Prozente davon, dann kommt er auch beruflich
relativ weit, allein durch Fleiß. Wenn er nicht ganz dusselig ist.
Zur Person:
Willi Holdorf (*17. Februar 1940 in Blomesche Wildnis)
1964 in Tokio gelang Willi Holdorf im Zehnkampf der große Coup: In
einem mitreißenden Finale gegen Rein Aun aus der Sowjetunion holte er
als erster Deutscher den Olympiasieg in der "Königsdisziplin" der
Leichtathletik. Nach dem abschließenden 1500-Meter-Lauf brach er
entkräftet zusammen. Vor seiner Karriere in der Leichtathletik war
der "Sportler des Jahres 1964" als Fuß- und Handballer aktiv gewesen.
Vielseitigkeit bewies der Diplom-Sportlehrer auch später: Holdorf
führte Stabhochspringer Claus Schiprowski 1968 als Trainer zu
Olympia-Silber, kümmerte sich um die Kondition des deutschen
Davis-Cup-Teams, machte den Fußballlehrer-Schein und arbeitete 1974
kurzzeitig als Trainer des Bundesligisten Fortuna Köln. Zwischendurch
setzte er sich als Anschieber in den Zweier-Bob von Horst Floth und
wurde EM-Zweiter. Später war Holdorf Repräsentant eines großen
Sportartikelherstellers und schrieb als Gesellschafter an der
Erfolgsgeschichte des Handball-Klubs THW Kiel mit. Seit 2011 ist er
Mitglied in der "Hall of Fame des deutschen Sports".
Die Fragen stellte Oliver Kauer-Berk.
Abdruck honorarfrei. Quelle: Deutsche Sporthilfe
Pressekontakt:
Stiftung Deutsche Sporthilfe
Jörg Hahn
Otto Fleck-Schneise 8
60528 Frankfurt am Main
Tel: 069-67803 - 500
Fax: 069-67803 - 599
E-Mail: joerg.hahn@sporthilfe.de
Internet: www.hall-of-fame-sport.de
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