Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Vor 25 Jahren ging die Berliner Mauer auf
Der Mantel der Geschichte
Thomas Seim
Geschrieben am 07-11-2014 |
Bielefeld (ots) - Es gibt Augenblicke im Leben eines Journalisten,
die man jederzeit vollständig und bis ins Detail genau aus der
eigenen Erinnerung abrufen kann. Der Fall der Berliner Mauer war so
ein Augenblick. Ich werde das Gesicht und die Augen meines Chefs beim
Zusammenbau der Zeitung an jenem 9. November 1989 nie vergessen. Wir
hatten alles fertig und waren kurz vor dem Druck - da klingelte das
Telefon und er flüsterte mir mit einer Mischung aus Überraschung,
Unglauben, Freude und - angesichts des bereits abgelaufenen
Redaktionsschlusses der Post-Ausgabe - Panik leise zu: Die machen die
Mauer auf. Der Sekundenstillstand löste sich damals schnell in
Betriebsamkeit und Professionalität auf: Alles neu! Die ganze
Zeitung. Das entsprach der Wirkung des bis dahin für unmöglich
gehaltenen Ereignisses: Deutschland erfand sich neu. Im Bundestag
sangen die Abgeordneten die Nationalhymne. Kollegen schwangen sich
irgendwo im Westen ins Auto und rasten nach Berlin. Bis tief in die
Nacht produzierten wir Zeitungen als Dokumente der Bgeisterung:
Berliner tanzten auf der Mauer. Es wehte der Mantel der Geschichte.
Alles schien möglich: Zwei deutsche Staaten, die Wiedervereinigung,
das Ende der Block-Konfrontation in Ost und West, Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Wohlstand. Blühende Landschaften gar. Es
herrschte Überschwang allenthalben. Tränen flossen bei den Älteren.
Wir Jüngeren blieben nüchterner. Aber das Gefühl, Geschichte zu
erleben, hatte für alle etwas Wunderbares. Ein Vierteljahrhundert
später gibt es viele Gründe zum Feiern. Für einen kurzen Augenblick
öffnete die Geschichte den Deutschen die Chance zur
Wiedervereinigung. Wir haben sie genutzt. Heute könnten wir
angesichts der sich neuerlich zuspitzenden Spannungen zwischen Ost
und West, angesichts der wachsenden regionalen Konflikte in allen
Teilen der Welt keineswegs mehr sicher sein, dass dies ein zweites
Mal gelingen würde. Aber so blühend wie einst versprochen ist es auch
noch nicht geworden. Vielen geht es besser, insbesondere in den neuen
Bundesländern. Viele Gebäude sind renoviert, viele Straßen und
Autobahnen dort in tadellosem Zustand. Aber in den so genannten alten
Bundesländern ist Vieles liegen geblieben, was längst hätte erneuert
werden müssen. Brücken, Straßen, Häuser. Es gibt viele Gewinner, aber
auch ein paar Verlierer. Die große Begeisterung über die Einheit in
Einigkeit ist an vielen Stellen einer gewissen Ernüchterung gewichen.
25 Jahre haben noch nicht ausgereicht, annähernd gleiche
Lebensverhältnisse für alle in Deutschland lebenden Menschen
herzustellen. Wer heute den Blick auf leere Kassen, Schulden,
Steuern, Länderfinanzausgleich und die Rückkehr der Kleinstaaterei
richtet, kommt leicht zu dem Ergebnis, dass der Schwung verloren
gegangen ist. Den brauchen wir aber, um das Werk zu vollenden. Der
Rückzug ins Private, in die kleine private Idylle guter
Bürgerlichkeit reicht nicht, um das Werk zu vollenden. Der Egoismus
des eigenen Sprengels ist gefährlich. Wir brauchen noch ein wenig
Anstrengung, um auch diejenigen mitzunehmen und für dieses Werk zu
begeistern, die noch im Abseits stehen und bislang zu den Verlierern
gehören. Nur wer teilhaben darf, lässt sich für das große Ganze
begeistern und widersteht schlichter radikaler Versuchung. Das galt
und gilt bis heute. Übrigens nicht nur für die Überwindung der
deutschen Teilung, sondern auch für die Vollendung der europäischen
Einigung. Geschichte hört nicht auf. Sie will immer wieder
neugestaltet werden.
Pressekontakt:
Neue Westfälische
News Desk
Telefon: 0521 555 271
nachrichten@neue-westfaelische.de
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