Reporter ohne Grenzen veröffentlicht Rangliste der Pressefreiheit 2015 / Informationskriege, Repressionen im Zeichen der nationalen Sicherheit, Gewalt gegen Journalisten bei Demonstrationen
Geschrieben am 12-02-2015 |
Berlin (ots) -
Sperrfrist: 12.02.2015 06:00
Bitte beachten Sie, dass diese Meldung erst nach Ablauf der
Sperrfrist zur Veröffentlichung freigegeben ist.
Reporter ohne Grenzen (ROG) veröffentlicht heute die Rangliste der
Pressefreiheit 2015. In der Mehrzahl der 180 bewerteten Länder ist
die Lage für Journalisten und unabhängige Medien im vergangenen Jahr
schlechter geworden. Zu den wichtigsten Gründen zählt die gezielte
Unterdrückung oder Manipulation der Medien in Konfliktregionen wie
der Ukraine, Syrien, dem Irak und den Palästinensergebieten. Daneben
missbrauchen viele Staaten den angeblich nötigen Schutz der
nationalen Sicherheit, um Einschränkungen der Pressefreiheit
durchzusetzen.
"Wo die Kontrolle über Informationen ein strategisches Kriegsziel
ist wie derzeit im Osten der Ukraine oder in Syrien, werden
Journalisten zur Verfügungsmasse der Konfliktparteien", sagte
ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske in Berlin. "Wenn Propaganda und
Zensur in solchen Kriegen nicht die Oberhand behalten sollen, müssen
die Rechte von Journalisten und unabhängigen Medien viel
entschlossener verteidigt werden."
Immer öfter werden auch Journalisten, die über Proteste berichten,
zur Zielscheibe der Gewalt von Polizei oder Demonstranten. Daneben
unterdrücken in vielen Ländern Terrorgruppen, Milizen oder
Verbrecherkartelle unliebsame Informationen mit Einschüchterung und
skrupelloser Gewalt. Zur vielerorts verheerenden Lage von
Journalisten und Bloggern tragen schließlich auch Zensur und Gewalt
im Namen von Religionen bei.
Die Rangliste der Pressefreiheit 2015 vergleicht die Situation für
Journalisten und Medien in 180 Staaten und Territorien für den
Zeitraum vom 15. Oktober 2013 bis 14. Oktober 2014. Deutschland liegt
in diesem Jahr auf Platz 12 (+2) hält sich damit im oberen Mittelfeld
der EU-Staaten.
KRIEGSZIEL: KONTROLLE ÜBER INFORMATIONEN
Viele der bewaffneten Konflikte des zurückliegenden Jahres wurden
auch als Informationskriege geführt. Ob in der UKRAINE (PLATZ 129,
-2), in SYRIEN (177, unverändert) und dem IRAK (156, -3) im
Gaza-Krieg zwischen ISRAEL (101, -5) und der Hamas
(PALÄSTINENSERGEBIETE 140, -2) oder im SÜDSUDAN (125, -6):
Ausnahmslos versuchten die Konfliktparteien, Nachrichtenmedien als
unabhängige Informationsquellen auszuschalten oder für die Zwecke der
eigenen Propaganda einzuspannen.
Die hohen Zahlen getöteter und entführter Journalisten in einigen
dieser Ländern zeugen davon, wie unbequem Journalisten den Mächtigen
dort als neutrale Beobachter sind - und wie skrupellos viele
Konfliktparteien sie deshalb auszuschalten oder durch gezielte
Angriffe abzuschrecken suchen. Die Folge sind schwarze
Nachrichtenlöcher wie in Teilen Syriens und des Irak, aus denen
praktisch keine unabhängigen Informationen mehr an die Außenwelt
dringen.
NATIONALE SICHERHEIT ALS VORWAND FÜR REPRESSIONEN
Angebliche Bedrohungen der nationalen Sicherheit dienen in vielen
Staaten als Rechtfertigung für Eingriffe in die Pressefreiheit und
andere Grundrechte. RUSSLAND (152, -4) etwa verabschiedete unter dem
Eindruck des Kriegs mit der Ukraine weitere repressive Gesetze,
darunter eine Verschärfung des Verbots, öffentlich zur Verletzung der
territorialen Integrität aufzurufen - wodurch jede Kritik etwa an der
Annexion der Krim kriminalisiert wird. KASACHSTAN (160, +1) führte
per Gesetz eine Vorabzensur für Zeiten sozialer Unruhen ein, um sich
für Proteste wie in der Ukraine zu wappnen.
Der "Schutz der Nationalen Sicherheit" diente auch der Armee in
THAILAND (134, -4) nach dem Putsch im vergangenen Mai als Vorwand für
umfassende Zensurmaßnahmen und musste als Rechtfertigung für eine
hohe Zahl willkürlicher Festnahmen von Journalisten in ÄGYPTEN (158,
+1) herhalten.
GEWALT GEGEN BERICHTERSTATTER BEI DEMONSTRATIONEN
Immer öfter werden Journalisten beschimpft, bedroht, angegriffen
oder gar getötet, weil sie über Demonstrationen berichten. Manche
werden gezielt angegriffen, um Berichte zu verhindern, andere geraten
bei gewaltsamen Protesten unbeabsichtigt zwischen die Fronten.
Oft geht solche Gewalt von Polizei oder Armee aus - so in der
UKRAINE während der Maidan-Proteste Anfang 2014, bei neuen Protesten
in der TÜRKEI (149, +5) im Jahr nach der Gezi-Bewegung sowie bei
Demonstrationen in VENEZUELA (137, -21) und HONGKONG (70, -9). Die
meisten dieser Übergriffe werden nie bestraft, wodurch sich die
Verantwortlichen in der Wahl ihrer Mittel bestärkt sehen dürften.
Immer wieder greifen auch aufgebrachte Demonstranten Journalisten
oder Medienredaktionen an, um gegen angeblich einseitige Berichte zu
protestieren.
Wiederholt wurden Journalisten während Demonstrationen willkürlich
festgenommen - 2014 etwa bei Protesten in BAHRAIN (163, unverändert),
aber auch bei den Unruhen in der Kleinstadt Ferguson in den USA (49,
-3). Selbst wenn die Reporter nach kurzer Zeit wieder freikommen, ist
die Drohgebärde unmissverständlich.
BEDROHUNGEN DURCH NICHTSTAATLICHE GRUPPEN
Mächtige nichtstaatliche Gruppen, die keine unliebsamen
Informationen dulden, sind in vielen Ländern eine tödliche Gefahr für
Journalisten. Beispiele dafür sind Milizen wie der Islamische Staat
in SYRIEN und dem IRAK oder Boko Haram in NIGERIA (111, +1),
verschiedene islamistische Gruppen in LIBYEN (154, -17) sowie
Paramilitärs und kriminelle Gruppen etwa in KOLUMBIEN (128, -2) und
MEXIKO (148, +4). Auch in BRASILEN (99, +12) werden immer wieder
Journalisten ermordet, die über Themen wie Korruption oder
organisierte Kriminalität berichten, auch wenn die Zahl solcher Morde
gesunken ist.
So vielfältig ihre Motive sind, so einheitlich gehen diese Gruppen
vor: Stets versuchen sie mit Drohungen und Racheakten, Journalisten
und Blogger zum Schweigen zu bringen, die es wagen, etwa
Menschenrechtsverletzungen oder die Verstrickungen solcher Gruppen
mit den jeweiligen Regierungen zu kritisieren oder sich schlicht
ihren Anweisungen zu widersetzen.
EROSION DES "EUROPÄISCHEN MODELLS"
Eine deutliche Verschlechterung der Pressefreiheit war 2014 in
einigen Staaten der Europäischen Union zu beobachten. In ITALIEN (73,
-24) gerieten erschreckend viele Journalisten durch Mafia-Drohungen,
Anschläge und unbegründete Verleumdungsklagen unter Druck. In
BULGARIEN (106, -6) ging die Finanzaufsicht auf der Grundlage eines
im Eilverfahren verabschiedeten Gesetzes mit Ermittlungen und
Geldstrafen gegen Journalisten vor, die über Missstände in der
Finanzindustrie berichtet hatten.
Zunehmende Medienkonzentration und staatliche Eingriffe in
Personal- oder Redaktionsentscheidungen beeinträchtigen weiterhin die
Pressefreiheit in UNGARN (65, -1). In LUXEMBURG (19, -15) behindern
Angriffe auf den Quellenschutz und enge Verbindungen zwischen
Politik, Wirtschaft und Medien den aufkeimenden investigativen
Journalismus.
ZENSUR IN RELIGIÖSEM GEWAND
Immer mehr Länder nutzen Verbote von Blasphemie (Gotteslästerung)
oder Religionsbeleidigung, um politische Kritik zu unterdrücken. Zu
dieser Gruppe zählen Staaten wie SAUDI-ARABIEN (164, unverändert) und
IRAN (173, unverändert), aber auch KUWAIT (90, +1) und INDIEN (136,
+4). In jedem dieser Länder wurden 2014 Blogger oder Journalisten
verhaftet, weil sie sich kritisch über religiöse Gruppen hatten oder
über Staatsorgane, die sich religiös zu legitimieren versuchen.
DIKTATUREN STREBEN NACH NOCH MEHR KONTROLLE
Selbst viele der ohnehin repressivsten Staaten haben 2014 ihren
Zugriff auf die Medien weiter verschärft. So belegte CHINA (176, -1)
Journalisten mit neuen Einschränkungen wie einem Verbot
"unautorisierter Kritik" und verhaftete prominente Journalisten und
Blogger wie Gao Yu und Ilham Tohti. Im SUDAN (174, -2) war das Jahr
von willkürlichen Festnahmen und der Beschlagnahme von rund 50
kompletten Zeitungsauflagen geprägt; für Berichte über Korruption
wurde eine Vorzensur eingeführt.
ASERBAIDSCHAN (162, -2) zwang die wenigen noch vorhandenen
unabhängigen Zeitungen durch finanziellen und juristischen Druck zur
Aufgabe, trieb Dutzende Journalisten ins Exil und verhaftete viele
andere. USBEKISTAN (166, unverändert) schreckt trotz äußerst
repressiver Gesetze offenbar selbst vor außergesetzlichen Maßnahmen
nicht zurück: Das wichtigste unabhängige Nachrichtenportal des
Landes, Uznews, musste seinen Betrieb einstellen, nachdem das
E-Mail-Konto seiner Chefredakteurin gehackt und Informationen über
das Netzwerk von Untergrund-Korrespondenten im Internet verbreitet
wurden.
WICHTIGE AUF- UND ABSTEIGER
Größter Absteiger in der Rangliste 2015 ist ANDORRA (32, -27), wo
wirtschaftliche Konzentration und Interessenkonflikte schärfer zutage
getreten sind und jeglicher gesetzliche Schutz für Meinungsfreiheit
und die Vertraulichkeit journalistischer Quellen fehlt. Vor allem die
Macht der Banken auch als Anzeigenkunden ist ein ernsthaftes Problem
für die Unabhängigkeit der Medien.
Größter Aufsteiger ist die MONGOLEI (54, +34). Die Umwandung der
staatlichen in öffentlich-rechtliche Medien hat dort zu einem
deutlich verbesserten Umfeld für die Arbeit von Journalisten
beigetragen. Auch werden mittlerweile die positiven Auswirkungen
eines 2012 in Kraft getretenen Informationsfreiheitsgesetzes
sichtbar, das nun etwa Veröffentlichungen über die
Vermögensverhältnisse von Politikern ermöglicht.
SPITZENREITER UND SCHLUSSLICHTER
Die Spitzenplätze der Rangliste nehmen FINNLAND, NORWEGEN und
DÄNEMARK ein. Dazu tragen etwa liberale Regelungen über den Zugang zu
Behördeninformationen sowie der Schutz journalistischer Quellen bei.
In Finnland haben die Bürger seit 2010 sogar ein einklagbares Recht
auf eine bezahlbare Breitbandverbindung. Am Ende der Rangliste halten
sich unverändert ERITREA, NORDKOREA und TURKMENISTAN - Diktaturen,
die die Medien ihrer Länder so gut wie vollständig kontrollieren.
METHODIK DER RANGLISTE
Die jährliche Rangliste von Reporter ohne Grenzen bewertet die
Lage der Presse- und Informationsfreiheit in 180 Ländern. Grundlage
der Rangliste ist ein Fragebogen zu allen Aspekten unabhängiger
journalistischer Arbeit, den Reporter ohne Grenzen an Hunderte
Journalisten, Wissenschaftler, Juristen und Menschenrechtsverteidiger
weltweit sowie an sein eigenes Korrespondentennetzwerk verschickt.
Die insgesamt 87 qualitativen Fragen sind in sechs Kategorien
unterteilt: Medienvielfalt, Unabhängigkeit der Medien,
journalistisches Arbeitsumfeld und Selbstzensur, rechtliche
Rahmenbedingungen, institutionelle Transparenz sowie
Produktionsinfrastruktur. Aus den gewichteten Antworten wird eine
Punktzahl zwischen 0 (optimal) und 100 (schlechtestmöglich)
errechnet. Hinzu kommt eine quantitative Kategorie für Übergriffe und
Gewalttaten gegen Journalisten, die Reporter ohne Grenzen nach
festgelegten Kriterien selbst ermittelt und die in eine
Gesamtpunktzahl einfließt. Aus der höheren dieser beiden Punktzahlen
- also dem schlechteren Wert - ergibt sich im Verhältnis zu den
Ergebnissen der übrigen Länder der jeweilige Platz in der Rangliste.
Die Punktzahl für Übergriffe kann den Rang eines Landes also nur
verschlechtern, aber nicht verbessern.
WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN
Alle Informationen zur ROG-Rangliste sind ab Ende der Sperrfrist
unter www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/ sowie für Redaktionen
ab sofort vorab unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse/downloads/rldpf2015/ abrufbar.
Dort stehen unter anderem ein ausführlicher Überblick über die Lage
der Pressefreiheit in Deutschland (http://t1p.de/dihu) sowie
thematisch gegliederte vertiefende Darstellungen zu den oben
umrissenen wichtigsten Entwicklungen des vergangenen Jahres bereit.
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Silke Ballweg / Christoph Dreyer
presse@reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29
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