Ökumenischer Gottesdienst im Berliner Dom
anlässlich der Erinnerung an den Völkermord
an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen
Geschrieben am 23-04-2015 |
Hannover (ots) -
Sperrfrist: 23.04.2015 19:15
Bitte beachten Sie, dass diese Meldung erst nach Ablauf der
Sperrfrist zur Veröffentlichung freigegeben ist.
In einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom gedachten am
23. April über 1100 Menschen des Völkermordes an Armeniern, Aramäern,
Assyrern und Pontos-Griechen vor hundert Jahren. Schätzungen zufolge
1,5 Millionen Menschen wurden zwischen 1915 und 1922 im Osmanischen
Reich ermordet. "Als Kirchen in Deutschland stehen wir zusammen zu
der Verantwortung, das Gedenken an den Völkermord wachzuhalten",
erklärten Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Deutsche
Bischofskonferenz (DBK), Armenische Apostolische Kirche und die
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, die zu dem Gottesdienst
gemeinsam einluden. Vor dem Gottesdienst begrüßte Dompredigerin Petra
Zimmermann Bundespräsident Joachim Gauck, der im Anschluss an den
Gottesdienst zu den Versammelten sprach.
"Wir feiern diesen Gottesdienst in ökumenischer Gemeinschaft, weil
wir alle Glieder am einen Leib Jesu Christi sind und deshalb auch die
Last der Trauer gemeinsam tragen. Mit dem Apostel Paulus wissen wir:
Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit (1Kor 12,26)",
sagte Landesbischof Heinrich Bedford Strohm, Ratsvorsitzender der
EKD, in seinem Eingangswort. Im Gedenken an die Opfer sprach er auch
die Verantwortung Deutschlands am Genozid an. Die Mitschuld bestehe
im Wegsehen der Diplomaten, Militärs und Politiker gegenüber den
Tätern des Jungtürkischen Regimes, den Verbündeten des Deutschen
Reiches im Ersten Weltkrieg und in der Zusammenarbeit mit ihnen.
Weiter sagte er: "Doch dürfen wir ebenso nicht verschweigen, dass
evangelische Kirchenleitungen und Missionsgesellschaften vor
einhundert Jahren genau Bescheid wussten, dass sie aber dennoch
wegschauten und untätig blieben. Nur wenn wir diese eigene Mitschuld
deutlich und klar aussprechen und anerkennen, können wir auch andere
dazu ermutigen, sich aufrichtig und objektiv mit dem Verbrechen des
Genozid auseinanderzusetzen."
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard
Marx, sprach in seiner Predigt von einer "Chronik der
Unmenschlichkeit", der an jedem Tag neue Seiten hinzugefügt werden.
"Was vor 100 Jahren, am 24. April 1915, seinen Anfang nahm, war ein
solches Menschheitsverbrechen - das 'große Verbrechen', wie die
Armenier sagen." Immer mehr Staaten, politische und religiöse Führer
in aller Welt bezeichneten diese Ereignisse inzwischen als
Völkermord, so Kardinal Marx: "Auch Papst Franziskus hat dies getan,
als er bei einem Gottesdienst mit armenischen Gläubigen das Wort von
Papst Johannes Paul II. in Erinnerung rief, dass das ihren Vorfahren
angetane Unrecht 'allgemein als 'der erste Genozid des 20.
Jahrhunderts' angesehen werde. Kardinal Marx betonte in seiner
Predigt, dass nicht an die Grausamkeiten der Geschichte erinnert
werde, um die Vergangenheit nicht vergehen zu lassen. "Sondern wir
rufen sie ins Gedächtnis, damit eine verdrängte Vergangenheit uns
nicht gefangen nimmt und uns innerlich vergiftet. Um es mit den
Worten von Papst Franziskus zu sagen: 'Wenn die Erinnerung schwindet,
hält das Böse die Wunde weiter offen.' Das müssen wir verhindern."
Gerade deshalb sei es wichtig, so Kardinal Marx, "dass wir heute
zusammengekommen sind - Christen verschiedener Konfession und
Herkunft -, um den Schrecken beim Namen zu nennen und so einen Weg zu
beschreiten, den Schrecken zu bannen und Wege des Neuanfangs und der
Versöhnung zu gehen."
Gebete und Psalmen wurden während des Gottesdienstes in den
Muttersprachen der Kirchen gesprochen. So betete Erzbischof Karekin
Bekdjian (Armenischer Primas von Deutschland) Psalm 34 auf aramäisch,
Metropolit Augoustinos (Vorsitzender der Orthodoxen Bischofskonferenz
von Deutschland) auf Griechisch und Erzbischof Philoxenos Mattias
Nayis und Erzbischof Julius Hanna Aydin (Syrisch-orthodoxe Kirche)
auf Aramäisch. Beteiligt am Gottesdienst waren darüber hinaus
Bischöfin Rosemarie Wenner (Evangelisch-Methodistische Kirche) und
Dompredigerin Petra Zimmermann.
Für die musikalische Umrahmung des Gottesdienstes sorgten der
Armenische Frauenchor Geghard, die syrisch-orthodoxe Sängerin Maria
Kaplan, Cellist Christoph Lamprecht und Domkantor Tobias Brommann.
Schon vor dem Gottesdienst sprachen die Beteiligten sich für die
Anerkennung der schrecklichen Verbrechen als Völkermord aus:
"Gemeinsam unterstützen wir das Anliegen des Ökumenischen Rates der
Kirchen, der Konferenz Europäischen Kirchen und der
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, es den
Armenischen Kirchen zu ermöglichen, ihre Stimme zu erheben und auf
die Anerkennung des Völkermordes hinzuarbeiten."
Die Predigt von Kardinal Reinhard Marx und das Wort von
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der
EKD, finden Sie als pdf-Dateien in der Anlage und nach Ablauf der
Sperrfrist zum Herunterladen auf www.dbk.de und www.ekd.de.
Hannover, 23. April 2015
Pressestelle der EKD
Claudia Maier
Diese Pressemitteilung wird zeitgleich von den Pressestellen der
Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in
Deutschland versandt. Mehrfachsendungen bitten wir zu entschuldigen.
Sperrfrist: 23. April 2015, 19.15 Uhr
Es gilt das gesprochene Wort!
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Worte des Ratsvorsitzenden am Donnerstag, 23. April, um 19.15 Uhr,
im ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom anlässlich der
Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und
Pontos-Griechen
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Eminenzen und Exzellenzen,
meine Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern,
für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüße ich
Sie zum ökumenischen Gottesdienst im Gedenken an den Genozid an
Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen. Die Armenische
Apostolische Kirche, die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Orthodoxe
Bischofskonferenz, die Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelische
Kirche in Deutschland und die Arbeitsgemeinschaft christlicher
Kirchen in Deutschland feiern diesen Gottesdienst in ökumenischer
Gemeinschaft, weil wir alle Glieder am einen Leib Jesu Christi sind
und deshalb auch die Last der Trauer gemeinsam tragen. Mit dem
Apostel Paulus wissen wir: "Wenn ein Glied leidet, so leiden alle
Glieder mit" (1Kor 12,26).
Wir sind dankbar, dass Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident,
unserer Einladung gefolgt sind und nach dem Gottesdienst zu uns
sprechen werden. Mit Ihrem Kommen zeigen Sie, wie wichtig es ist, die
Erinnerung an den Völkermord wachzuhalten. Wir schätzen Sie als eine
Persönlichkeit, die für die notwendige Aufarbeitung auch der dunklen
Seiten der deutschen Vergangenheit eintritt.
Diesen Dank an unser Staatsoberhaupt spreche ich im Wissen um die
Mitschuld Deutschlands am Genozid im Jahr 1915 aus. Die Mitschuld
besteht im Wegsehen der Diplomaten, Militärs und Politiker gegenüber
den Tätern des Jungtürkischen Regimes, den Verbündeten des Deutschen
Reiches im Ersten Weltkrieg und in der Zusammenarbeit mit ihnen. Sie
besteht ebenso in der moralischen Gleichgültigkeit, ja dem Zynismus
der Regierung des Deutschen Reiches gegenüber den Opfern. Hier müssen
wir mit Beschämung den Ausdruck einer Erosion ethischer Normen
erkennen, die später in Deutschland selbst in der Shoah ihren
fürchterlichen Ausdruck fand.
Das moralische Versagen, das zur Mittäterschaft Deutschlands im
Genozid von 1915 führte und später Ausdruck in der Täterschaft
Deutschland in der Shoah fand, beschränkte sich nicht auf die
staatlichen Akteure. Bis auf wenige Ausnahmen betraf es auch die
Evangelische Kirche. Wir erinnern an Johannes Lepsius, der 1915
nichts unterließ, um auf den Genozid aufmerksam zu machen und das
Gewissen der Menschen wachzurütteln. Doch dürfen wir ebenso nicht
verschweigen, dass evangelische Kirchenleitungen und
Missionsgesellschaften vor einhundert Jahren genau Bescheid wussten,
dass sie aber dennoch wegschauten und untätig blieben. Als
Evangelische Kirche in Deutschland stehen wir deshalb in einer
besonderen Verantwortung, wie es Synode und Rat der EKD bereits vor
zehn Jahren zum 90. Jahrestag des Genozids mit folgendden Worten zum
Ausdruck brachten: "Die Vergangenheit lässt uns nicht los, bis sie
wirklich aufgearbeitet ist. Schuld muss angenommen werden, die
Wahrheit muss verkündet werden. Dieser schwere Schritt der
Rückwendung zur eigenen Geschichte ist notwendig, um den Weg zur
Vergebung zu öffnen, bittere Erinnerungen zu heilen und eine
gemeinsame Zukunft zu gewinnen." Nur wenn wir diese eigene Mitschuld
deutlich und klar aussprechen und anerkennen, können wir auch die
Türkei dazu ermutigen, sich aufrichtig und objektiv mit dem
Verbrechen des Genozid auseinanderzusetzen.
Das Bekennen von eigener Schuld ist nicht zu trennen von der
Verantwortung für die Gegenwart. Das Eintreten für Menschenrechte und
Religionsfreiheit weltweit ist für uns - gerade aus unserer
Schuldgeschichte heraus, der Mitschuld am Genozid von 1915 und der
Schuld an der Shoah - unverzichtbar. Dabei denken wir heute auch an
alle Menschen, Christen, Juden und Muslime, die im Nahen Osten und
überall Opfer von ethnisch oder religiös motivierter Gewalt werden.
Der Genozid des Jahres 1915 und das deutsche Verbrechen der Shoah
mahnen uns, dass es keine Alternative zur Koexistenz von Kulturen und
Religionen gibt und dass die Vorstellung von gewaltsam
vereinheitlichten religiösen oder ethnischen Territorien ein
schrecklicher Irrweg ist.
Der christliche Glaube verbindet das Bekennen der Schuld und die
Bitte um Vergebung mit einer Hoffnung. Wir wissen, dass jedes
Erinnern von der Vergangenheit ausgeht und ausgehen muss. Aber
Erinnern beschränkt sich nicht auf das bloße gedankliche Wiederholen
des Vergangenen. Erinnern im christlichen Sinn nimmt das Geschehene,
das Getane und das Erlittene hinein in die Geschichte Gottes mit den
Menschen und bittet zugleich um Gottes Geist, der Herzen und Sinne
der Menschen verwandelt und erneuert.
Im ökumenischen Gespräch mit unseren Schwesterkirchen der
orientalischen und der byzantinischen Tradition haben wir dies aus
der Liturgie, dem gottesdienstlichen Geschehen, gelernt: In jeder
Gottesdienstfeier tritt zum Erinnern, zur Anamnese, die Anrufung des
verwandelnden und Zukunft schenkenden Geistes Gottes, die Epiklese.
Wenn wir also heute gemeinsam im ökumenischen Gottesdienst an den
Genozid vor einhundert Jahren erinnern, so geschieht dies in der
Hoffnung, dass uns das gemeinsame Erinnern verwandelt: Wer das
Erinnerte zusammenbringt mit der Geschichte Gottes mit den Menschen,
wird durch das Erinnern selbst transformiert. Diese Erfahrung steht
im Zentrum unseres Glaubens.
Wäre es nicht so, dann müsste sich das Erinnern auf ein ewiges
Kreisen um das Vergangene beschränken. Solch ein Erinnern bliebe ohne
jede Kraft zur Veränderung und zur Erneuerung. Weil wir aber das
Gedenken an die Opfer des Genozids ebenso wie an Schuld und Versagen
der Helfer und der Täter einbinden in die verwandelnde Kraft des
Glaubens, dürfen wir auf ein Erinnern hoffen, das transformiert,
tröstet und endlich auch versöhnt.
Diese Hoffnung verharmlost das Geschehene nicht. Der Völkermord an
Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen durch das
Jungtürkische Regime bleibt ein Verbrechen. Die Mitschuld
Deutschlands am Genozid von 1915 und auch die Beschämung werden nicht
aufgehoben. Aber mit der Hoffnung auf Verwandlung und Versöhnung
schafft der Glaube zugleich etwas Neues. Möge Gott uns allen diese
verwandelnde und erneuernde Erfahrung in diesem Gottesdienst
schenken.
Predigt von Reinhard Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen
Bischofskonferenz,
im Ökumenischen Gottesdienst am 23. April 2015 in Berlin
im Gedenken an den 100. Jahrestag des Genozids an Armeniern,
Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Geschichte der Menschheit kann auch als Geschichte des Bösen,
als Ansammlung von Untaten und Verbrechen, von Gewalt und Mord
geschrieben werden. Der Chronik der Unmenschlichkeit werden an jedem
Tag neue Seiten hinzugefügt. Und doch: Bestimmte Verbrechen ragen aus
dieser alltäglichen und allgegenwärtigen Flut menschengemachter
Schrecken heraus. Sie bleiben nicht nur Einzelnen im Gedächtnis,
nicht nur Gruppen oder bestimmten Völkern, nein, die ganze Menschheit
wird immer wieder von der Erinnerung daran geplagt. Denn es sind
Verbrechen, die den Raum der bloß individuellen oder nationalen
Leiderfahrung sprengen. Sie konfrontieren die ganze Menschheit und
jeden Einzelnen mit den moralischen Abgründen, die wir alle als
Möglichkeit in uns tragen. Was vor 100 Jahren, am 24. April 1915,
seinen Anfang nahm, war ein solches Menschheitsverbrechen - das
"große Verbrechen", wie die Armenier sagen. Es beginnt mit der vom
Innenminister der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches
befohlenen Verhaftung von 235 armenischen Persönlichkeiten. Ein fast
unscheinbares Ereignis. Aber dann wird die armenische Bevölkerung -
und mit ihr die katholischen und orthodoxen Syrer, die Assyrer,
Chaldäer und Griechen - aus ihren Siedlungsgebieten deportiert. Die
Menschen verhungern und verdursten auf dem Fußweg in
die Wüstenlager, in die sie verbracht werden sollen. Viele werden auf
diesem Marsch erschossen, erschlagen, in Flüssen ertränkt. Reguläre
Truppen sind hier am Werk, Paramilitärs, auch aufgehetzte türkische
Zivilisten. Selbst wer die Lager erreicht, hat nur geringe
Überlebenschancen. Es fehlt an allem. Dies sind keine Orte, die
zum Leben ausgelegt wären. Und so steht am Ende eine
erschütternde Bilanz: Hundertausende sind dem schrecklichen
Verbrechen zum Opfer gefallen, eine Million, manche sprechen von
1,5 Millionen Toten. Immer mehr Staaten, politische und religiöse
Führer in aller Welt bezeichnen diese Ereignisse inzwischen als
Völkermord. Auch Papst Franziskus hat dies getan, als er bei einem
Gottesdienst mit armenischen Gläubigen das Wort von Papst Johannes
Paul II. in Erinnerung rief, dass das ihren Vorfahren angetane
Unrecht "allgemein als 'der erste Genozid des 20. Jahrhunderts'"
angesehen werde. Mit dieser Bemerkung hat sich der Papst den Zorn der
türkischen Regierung zugezogen. Ich bin kein Historiker und kein
Jurist. Aber ich verstehe gut, warum die Nachfahren der Opfer auf
dieser Charakterisierung beharren. Sie wollen die jahrzehntelange
Geschichte des Leugnens, Verdrängens und Bagatellisierens definitiv
beendet wissen, die sie als fortdauernde Demütigung der Opfer
verstehen. Und tatsächlich machen die historischen Umstände - die
bedrängte Situation des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und
die gegen das Reich gerichteten nationalen Ambitionen der Armenier -
zwar manches verständlich. Doch sie vermögen in keiner Weise zu
rechtfertigen, was geschehen ist. Man darf die Verbrechen, die an den
Armeniern und den anderen christlichen Gruppen begangen wurden, nicht
in das allgemeine Kriegsgeschehen (so furchtbar dieses auch war)
einordnen und sie allenfalls als kriegsbedingte Exzesse bedauern.
Denn dies hieße, die moralischen Maßstäbe preiszugeben, die wir alle
- gerade mit Blick auf die Konflikte und gewalttätigen
Auseinandersetzungen - auch heute und für die Zukunft so dringend
benötigen.
Wir erinnern nicht an die Grausamkeiten der Geschichte, um
die Vergangenheit nicht vergehen zu lassen. Sondern wir
rufen sie ins Gedächtnis, damit eine verdrängte
Vergangenheit uns nicht gefangen nimmt und uns innerlich vergiftet.
Um es mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen: "Wenn die
Erinnerung schwindet, hält das Böse die Wunde weiter offen". Das
müssen wir verhindern. Und deshalb ist es wichtig, dass wir heute
zusammengekommen sind - Christen verschiedener Konfession und
Herkunft -, um den Schrecken beim Namen zu nennen und so einen Weg zu
beschreiten, den Schrecken zu bannen und Wege des Neuanfangs und der
Versöhnung zu gehen.
Aber kann es nach einem massenhaften Morden, wie es die Armenier
erlebt haben, überhaupt je wieder zu einem friedlichen Zusammenleben
kommen? Eine "abstrakte" Antwort jenseits der konkreten Geschichte
kann es hier sicher nicht geben. Aber als Deutsche dürfen wir von der
Erfahrung sprechen, nach dem Zweiten Weltkrieg eine unverdiente
Chance der Aussöhnung erhalten zu haben. Nach den Vernichtungskriegen
im Osten Europas und dem in seiner Art einmaligen Verbrechen des
Holocaust sind uns neue Anfänge ermöglicht worden. Wir haben
Vergebung erfahren. Aber der Preis ist der Mut zur Ehrlichkeit
gegenüber der eigenen Geschichte und die wirkliche Bereitschaft, auf
die Opfer und ihre Nachkommen zu hören. Ohne dies aber wäre es nicht
möglich geworden. Und ohne dies gibt es auch heute keine Wege in eine
gemeinsame Zukunft der durch geschichtliche Schuld getrennten Völker.
Als Christen haben wir dazu eine besondere Verantwortung im Blick auf
den Gott, der im Kreuz seines Sohnes alle Schuld, alle Verbrechen auf
sich gezogen hat.
Vom Geist, von Haltungen, von Mentalitäten, die es braucht, um aus
den scheinbar unentrinnbaren Zerwürfnissen und der hoffnungslosen
Verstrickung in die Gewalt loszukommen, sprechen auch die
Seligpreisungen in der Bergpredigt Jesu, die wir eben gehört haben.
Wer ist selig, wer ist Gott nahe? Das ist die Frage, die Jesus seinen
Zuhörern vorlegt. Und die Antwort bricht mit aller konventionellen
Weisheit, mit der wir uns in dieser Welt einzurichten pflegen. Nicht
Wohlstand, Wissen, Macht und Reputation, nicht die
Anpassungsfähigkeit an den Lauf der Dinge zeichnen den Menschen vor
Gott aus. Selig gepriesen werden diejenigen, die sich ihrer Armut vor
Gott bewusst sind, die das Leid annehmen, die Gerechtigkeit suchen
und Barmherzigkeit üben. Selig gepriesen werden die Friedfertigen und
Frieden Schaffenden, diejenigen, die sogar das Los der Verfolgung
annehmen. Mit einem Wort: Selig gepriesen werden diejenigen, die der
alltäglichen Logik der Durchsetzung eigener Interessen und der Gewalt
widerstehen und sich auf die Lebensform Christi einlassen und auf
sein Sterben, in dem Gott zugelassen hat, dass alle Mächte der Gewalt
und Sünde am Kreuz seines Sohnes zum Erliegen kommen. Dafür sollen
wir Zeugen sein. Aber dafür braucht es den Blick in die Wahrheit.
Was heißt das angesichts einer großen historischen Katastrophe wie
dem Genozid der Jahre 1915-1918? - Für die Nachkommen der Täter heißt
es, der historischen Schuld der eigenen Nation ins Auge zu blicken,
dem Versagen der Vorfahren nicht auszuweichen, nicht zu lavieren,
nicht zu bagatellisieren - und so auf einen Neubeginn zu hoffen, der
dem eigenen Land schließlich auch zur Ehre gereicht. - Für die
Nachkommen der Opfer besagen die Seligpreisungen: Nicht Vergeltung
ist der Weg, nicht Hass, der am Ende doch nur zerstörerisch und
selbstzerstörerisch ist. Nur die Vergebung, die Bereitschaft zur
Aussöhnung befreit ein Volk der Opfer davon, für alle Zeiten
hoffnungslos an die dunkelsten Stunden der eigenen Geschichte
gebunden zu bleiben. Und was ist mit uns Deutschen? Gewiss, wir waren
damals keine Täter. Aber das Deutsche Reich war Verbündeter der
Osmanen und seine Regierung über die Verbrechen gut
informiert. Bewusst und nur an den eigenen politischen Interessen
orientiert, ignorierte man das unfassbare Grauen. Kein
ernsthafter Versuch wurde unternommen, Einfluss auf die Politik
in Konstantinopel zu nehmen. Im Reichstag stellte der deutsche
Reichskanzler Bethmann Hollweg klar: "Unser einziges Ziel ist, die
Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten,
gleichgültig, ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht".
Müssen uns diese Worte und die deutsche Politik in der Nachtstunde
des armenischen Volkes nicht mit tiefer Scham erfüllen? Man hört in
unserem Land wenig davon. Ist die Gleichgültigkeit, zu der sich
Bethmann Hollweg laut bekannte, in unseren Tagen zu einer lautlosen
Gleichgültigkeit geworden? Die Empfindsamkeit für das Leiden der
anderen ist jedenfalls eine der Grundbotschaften Jesu, die auch in
den Seligpreisungen widerhallt. Die Ermordung von Armeniern, Aramäern
und Pontos-Griechen war keine religiös motivierte Tat. Aber wir
dürfen daran erinnern, dass die Opfer Christen waren. Und dies war
insofern nicht zufällig, als die Verbrechen in die Zeit des
europäischen Nationalismus fallen. Die Homogenität von Volk und
Staat war zur beherrschenden Ideologie geworden. Das
Zusammenleben verschiedener Völker und Identitäten in einem Staat
erschien immer weniger vorstellbar, geschweige denn wünschbar. Auch
im Mittleren Osten unserer Tage werden vor allem die Minderheiten
verfolgt. Und es sind nicht selten die Christen, die zur Zielscheibe
von Gewalt, Terror und Vertreibung werden. Eines der
Wüstenlager, in das die Armenier verbracht wurden, lag bei Mossul
- jener Stadt, aus der die Christen im letzten Sommer durch den
sogenannten "Islamischen Staat" verjagt worden sind. Der Vordere
Orient sucht nach einer neuen Ordnung. Die Christen und andere
Minderheiten werden wie damals im Sinne einer ethnischen und
ideologischen Säuberung vertrieben - im Irak, in Syrien und anderswo.
Lassen wir in dieser Stunde des Gedenkens die Frage an uns heran:
Sind wir in Deutschland und in Europa davor gefeit, uns einmal mehr
der Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit gegenüber den Leidenden
schuldig zu machen? Die Seligpreisungen Jesu können uns den Weg
weisen. Sie lenken den Blick auf die Opfer. Sie rufen uns zur
Solidarität mit den unter die Räder Geratenen. Sie machen uns unruhig
und stark zugleich, durch Erfahrungen der Gewalt und der Vertreibung
hindurch Wege des neuen Anfangs mit zu ermöglichen: "Selig, die keine
Gewalt anwenden...". Amen.
Pressekontakt:
Carsten Splitt
Evangelische Kirche in Deutschland
Pressestelle
Stabsstelle Kommunikation
Herrenhäuser Strasse 12
D-30419 Hannover
Telefon: 0511 - 2796 - 269
E-Mail: presse@ekd.de
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