Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Reinhard Zweigler zu Kauder
Geschrieben am 10-08-2015 |
Regensburg (ots) - Der Bundestag ist keine gut geölte
Abstimmungsmaschinerie für die Regierung, sondern vielmehr ein Ort
der argumentativen Auseinandersetzung, des Streits um das Für und
Wider von Gesetzesvorhaben. Und der einzelne Abgeordnete ist an
Aufträge und Weisungen nicht gebunden, sondern nur seinem Gewissen
unterworfen. Alles fromme Wünsche, meint Fraktionschef Volker Kauder
und holt, wie jetzt im Vorfeld eines möglichen dritten Hilfspakets
für Griechenland, mal wieder den Knüppel der Fraktionsdisziplin
heraus. Kauders unverhohlene Drohung an die eigenen Abgeordneten,
Abweichler, die ihrem Gewissen folgen, aus entscheidenden Ausschüssen
abzuberufen, wirft nicht nur eine Reihe parlamentsrechtlicher Fragen
auf, sondern damit verstößt er schlicht gegen die Verfassung. Das
sollte dem Chef der größten Fraktion im deutschen Parlament mal
jemand erklären. Abgeordnete des Bundestages sind kein Stimmvieh,
dass diszipliniert werden muss, sondern es sind frei gewählte
Abgeordnete, die es zu überzeugen gilt. Und langfristig betrachtet
sind jene Fraktionen erfolgreicher und kreativer, deren Abgeordnete
aus freier Überzeugung, bestem Wissen und Gewissen zusammen stehen,
als jene, denen mit dem Verlust wichtiger Posten in Ausschüssen oder
gar mit dem Nichtwiederaufstellen bei Wahlen gedroht wird. Natürlich
sollte niemand so blauäugig sein zu glauben, dass es im modernen
Parlamentarismus auch völlig ohne Fraktionen, ohne jedwede
parteipolitische Gebundenheit ginge. Fraktionen - von Regierung wie
von Opposition - verleihen dem Parlamentssystem eine gewisse
Stabilität und Berechenbarkeit. Regieren mit wechselnden, also auch
zufällig zustande kommenden Mehrheiten, ist nirgendwo beliebt. Weder
für die Regierten, also das Volk, noch für die Regierenden. Nur darf
aus der sogenannten Fraktionsdisziplin, die das Grundgesetz nicht
kennt, kein allemal und überall geltendes Dogma, keine
Zwangsanleitung für Abgeordnete gemacht werden. Wären die Fraktionen,
die freiwillige Zusammenschlüsse von Volksvertretern sind, lediglich
der parlamentarische Abnickverein der Regierung, man könnte sich das
Parlament glatt schenken. Doch Deutschland hat, auch wenn das manche
Kritiker meinen und trotz mancher Verwerfung, keine
Schein-Demokratie, sondern eine wirkliche Parlaments-Demokratie. Das
sieht man schon daran, dass kein Gesetz aus dem Bundestag so heraus
kommt, wie es hinein gegangen ist. "Strucksches Gesetz", nennt man
das in Erinnerung an den pfeiferauchenden und leider viel zu früh
verstorbenen ehemaligen SPD-Fraktionschef, Peter Struck. Zudem ist
das gegebene Spannungsverhältnis zwischen Gewissensfreiheit hier und
notwendigem Zusammenhalt in der Fraktion da keine Konstante. Es kommt
immer auf den konkreten Fall an. Wenn es wirklich um die Macht geht,
etwa der Kanzlerwahl und/oder der Vertrauensfrage, sieht die Sache
anders aus, als wenn es, wie im vorliegenden Fall Griechenland, um
weitere Hilfen, also staatliche Bürgschaften und Steuermilliarden,
geht. Erfreulicherweise mehren sich die Abstimmungen und Debatten im
Bundestag gänzlich ohne die Klammer der Fraktionsbindung. Bei
ethisch-moralischen Fragestellungen, etwa der Sterbebegleitung, der
Gendiagnostik, der Patientenverfügung oder anderen, hat erfrischend
sachbezogene fraktionsübergreifende Zusammenarbeit Raum gefunden. Oft
waren genau solche Debatten, in denen Abgeordnete auch in ihr
Innerstes blicken ließen und ihre ganz persönlichen Entscheidungen
begründeten, Sternstunden des Parlamentarismus. Bitte mehr davon!
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Mittelbayerische Zeitung
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