Karl Lauterbachs "Die Krebs-Industrie" rückt Kosten für Krebs in den Blickpunkt / Studien legen nahe: Ausgaben bringen viel
Geschrieben am 25-08-2015 |
Münster (ots) - Die Kosten für Krebsmedikamente sind ein
gesundheitspolitischer Dauerbrenner: Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl
Lauterbach hat sich in seinem neuesten Buch "Die Krebs-Industrie" auf
das Thema eingeschossen: "Die hohen Preise sprengen das System",
konstatiert er. Die Sorge: Immer mehr neue, teure Therapien für immer
mehr Krebsarten, gepaart mit immer mehr Krebskranken, die immer
länger leben - eine Spirale, die in eine finanzielle Sackgasse führen
kann. Gesundheitsökonomische Studien zeigen: Es kann, es muss aber
nicht.
Gesundheitsökonomen aus den USA haben sich die Frage gestellt*:
Was bekommen Systeme, die viel Geld für Krebsbehandlungen ausgeben,
zurück? Gibt es einen Zusammenhang zwischen hohen Ausgaben bzw. hohen
Ausgabensteigerungen und Krebsmortalitätsraten? Dazu haben sie in der
Zeit von 1995 und 2007 in 16 Ländern die Ausgaben den Todesraten
gegenübergestellt. Sie setzten methodisch auf zwei Arten,
Krebstodesraten zu messen: Zum einen die vermeidbaren Todesfälle
(also Todesfälle, die durch medizinische Interventionen vermeidbar
sind/ http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20823843), sowie die
krebsbedingte Übersterblichkeit
(http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/2206568). Beides sind Konzepte,
mit denen versucht wird, die Qualität von medizinischen Behandlungen
möglichst genau zu erfassen. Die 16 Länder wurden in drei Gruppen
geclustert: In solche, die viel ausgeben (wie USA, Japan oder
Norwegen), solche, die im mittleren Bereich liegen (wie Deutschland
oder Frankreich) und solche, die weniger ausgeben (etwa Italien oder
Slowenien). Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Viel hilft offenbar
viel.
Die entscheidende Frage: Was bekomme ich dafür?
Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Höhe der Ausgaben
und sinkenden Todesraten. "Wir haben herausgefunden, dass
krebsbedingte Mortalität in Ländern, die mehr für Krebsbehandlung
ausgeben, niedriger zu sein scheint und dass Fortschritt in der
Verminderung von Krebstodesfällen zwischen 1995 und 2007 dort am
stärksten ist, wo die Ausgabensteigerungen am größten waren." Auch
wenn noch nicht alle Hintergründe für diesen Trend klar sind - die
Autoren sprechen von vorläufigen Resultaten - zeigt sich zumindest,
dass Aussagen darüber, ob Gesundheitssysteme zu viel oder zu wenig
für die Krebsbekämpfung ausgeben, oft zu oberflächlich sind. Denn der
Frage nach dem "Was gebe ich aus?" muss immer die Frage nach dem "Was
bekomme ich dafür?" folgen.
Als einen wichtigen Grund für den Zusammenhang zwischen Ausgaben
und Todesraten sehen die Autoren darin, dass Systeme, die
vergleichsweise viel investieren, schneller neue Technologien
übernehmen - und z.B. auch neue Medikamente.
In eine ähnliche Kerbe haut auch die folgende, ebenfalls in 2015
veröffentlichte Studie**. Die Autoren suchen am Beispiel von zwei
Krebsarten (Multiples Myelom, Dickdarmkrebs) nach einer
qualitätsbezogenen Bewertung der Ausgaben. Dazu haben sie sich die in
den vergangenen Jahren durch neue Behandlungsoptionen stark
gestiegenen Therapiekosten angesehen und in Bezug zum
Behandlungsfortschritt gestellt. Den Fortschritt messen sie mit Hilfe
der Lebenszeitverlängerung multipliziert mit dem Wert des Überlebens.
Den Ökonomen geht es weniger um die reinen Kosten. Sie möchten
wissen, wie hoch die qualitäts-adjustierten Kosten sind. Sie suchen
nach den "Quality-Adjusted Cost of Care."
Mehrkosten können zu Einsparungen führen
Ein rein theoretisches Beispiel: Ein Krebspatient verursacht dem
System 100 Euro an Kosten. Nun kommt ein neues Medikament hinzu, das
mit 10 Euro zu Buche schlägt und damit die Systemkosten des Patienten
auf 110 Euro erhöht. Wenn nun aber die gesundheitlichen Vorteile
durch das Medikament 12 Euro wert sind - etwa durch eine höhere
Lebensqualität und der damit z.B. gestiegenen Produktivität des
Patienten - dann rechnet sich das: Die Mehrkosten sorgen unter dem
Strich für einen "Gewinn" von 2 Euro.
Wie misst man nun die gesundheitlichen Vorteile? Dazu hat sich
international der QALY durchgesetzt - oder in Deutsch: Das
qualitätskorrigierte Lebensjahr. Es ist das arithmetische Produkt aus
Lebenserwartung und der Qualität der verbleibenden Lebensjahre. Die
Berechnung ist relativ einfach: Die Zeit, die eine Person aller
Wahrscheinlichkeit nach in einem bestimmten Gesundheitszustand
verbringt, wird mit einem Korrekturfaktor aus Standardwertungen
gewichtet. Bei diesem Wertungssystem steht "1" für perfekte
Gesundheit und "0" für Tod. In der hier vorliegenden Studie haben die
Autoren den Wert eines QALY mit 100.000 US-Dollar pro Patient
festgelegt. Sie befinden sich damit nach eigenen Angaben am unteren
Ende der Schätzungen - haben also vorsichtig geschätzt.
Dickdarmkrebs: Medikamente kosten viel - und bringen viel.
Soweit die Theorie. Aber was heißt das in der Praxis? 1998 kostete
die 24-wöchige Therapie mit einem Medikament gegen Dickdarmkrebs 699
US-Dollar. 2005 waren es über 35.000 US-Dollar. Trotzdem blieben die
qualitäts-adjustierten Kosten über die Zeitspanne relativ gleich; sie
stiegen in der Zeitspanne nur um 1.377 Dollar pro Patient. Der Grund:
Nicht nur die Kosten der Behandlung stiegen dramatisch an, sondern
auch der Zugewinn an Lebensqualität. Unter anderem hat sich die
durchschnittliche Überlebenszeit mehr als verdoppelt.
Ähnliches konnten die Autoren für das Multiple Myelom zeigen. Auch
hier deuten die Zahlen darauf hin, dass je besser die Behandlung ist,
die Chancen steigen, dass die gesamtgesellschaftlichen Kosten einer
Intervention trotz steigender Ausgaben bei den Arzneimitteln sinken
können.
Für beiden Studien gilt übrigens, dass es für die getroffenen
Aussagen durchaus Limitationen gibt. Sie beruhen auf Modellen, die in
ihrer Aussagekraft von der Qualität der Daten abhängig sind. Gerade
bei länderübergreifenden Analysen ist die Vergleichbarkeit von Daten
eine Herausforderung. Die Autoren greifen auf Daten aus klinischen
Studien zurück, wohlwissend, dass diese manchmal den klinischen
Alltag nur bedingt abbilden.
HIV-Therapie: Teuer, aber kosteneffizient
Beide Autorenteams wollen die Debatte um steigende Kosten von
Behandlungen in den richtigen Kontext zu setzen. Der
qualitätsorientierte Ansatz - der übrigens nicht neu, aber wohl noch
unterentwickelt ist - gibt Entscheidungsträgern ein Instrument in die
Hand, um die wirklichen Kosten von medizinischer Interventionen
einzuschätzen. Dies ist nicht nur ein berechtigter Anspruch eines
Gesundheitssystems, das hohe Summen für die Behandlung kranker
Menschen in die Hand nimmt.
Gleichzeitig steigt die Gefahr, dass sich Therapien nicht
durchsetzen, weil sie auf den ersten Blick als zu teuer angesehen
werden, weil der zweite Blick fehlt, der sagt: Das rechnet sich. Dies
war z.B. in der HIV-Bekämpfung der Fall: Mit der Einführung der
hochaktiven antiviralen Therapie (HAART) in den 90er Jahren stiegen
die Kosten dramatisch an (kein Wunder: es gab ja vorher nichts).
Mindestens genauso dramatisch waren aber auch die Zugewinne an
Lebensdauer. Heute geht man davon aus, dass der Wert der
Lebenszeitverlängerung die Kosten für die Arzneimittel um das
Neunfache überstiegen haben.
*W.Stevens, T.Philipson et al.: Cancer Mortality Reductions Were
Greatest Among Countries Where Cancer Care Spending Rose the Most,
1995 - 2007, Health Affairs, 34, Nr. 4 (2015): 562-570
**D. Lakdawalla, J. Shafrin et al.: Quality-Adjusted Cost of Care:
A Meaningful Way to Measure Growth in Innovation Cost versus the
Value of Health Gains; in Health Affairs, 34, Nr. 4 (2015): 555-561.
Pressekontakt:
Pharma Fakten
Redaktion
Kai Tenzer, Stefan Rebein
0251 98776-25
0251 98776-83
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