Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Siemens: Joe Kaeser sucht Siemens von Martin Anton
Geschrieben am 27-11-2016 |
Regensburg (ots) - Von der Waschmaschine bis zum
Hochgeschwindigkeitszug, vom Windrad bis zur Dampfturbine für die
Ölindustrie - Siemens zeichnet für eine unüberschaubare Menge an
Produkten und Dienstleistungen verantwortlich. Doch der einstige
Riese startete wie eine heutige Garagenfirma aus Kalifornien vor
knapp 170 Jahren in einem Berliner Hinterhof. Werner Siemens, später
zu "von Siemens" geadelt, war Tüftler und Geschäftsmann. Mit seinem
Zeigertelegrafen reagierte er auf die Nachfrage des preußischen
Militärs nach schneller und sicherer Nachrichtenübertragung.
Erfindergeist und Unternehmertum - gerne feiert Siemens in diesen
Tagen den 200. Geburtstag seines Gründers. Dabei hat der Konzern nur
noch wenig mit seinen Ursprüngen zu tun. Denn aus dem beweglichen,
neugierigen Start-up ist ein träger Koloss geworden. Schon unter
Werner von Siemens wuchs das Unternehmen zu einem internationalen
Player. Von England bis Japan, von Südafrika bis nach Indien wurde
nur wenige Jahre nach der Gründung Siemens-Technik benutzt. Aus der
Zeit des Aufbruchs und der Entwicklung ist allerdings eine Zeit des
An- und Verkaufs von Konzernteilen geworden. Seit Jahren ist Siemens
im Umbau. Sparten wie Licht, Halbleiter und Automotive wurden
verkauft, Software und Turbomaschinen ins Portfolio aufgenommen. Eine
klare Strategie fehlte bis jetzt. Eher schien das Prinzip zu gelten:
Von jedem etwas - so wäre man auf jede ökonomische und geopolitische
Unwägbarkeit vorbereitet. Doch es gibt auch Entwicklungen, die
optimistisch stimmen. Das Siemens-Werk in Amberg etwa gilt als
vorbildlich, was den Weg in die Industrie 4.0 angeht - nicht umsonst
trifft sich Konzernchef Joe Kaeser besonders gerne hier mit
politischen Entscheidungsträgern. Außerdem soll Siemens' neue
Entwicklungseinheit Next47 genau den Tüftlergeist entwickeln, der
Siemens einst groß machte - ein Platz, an dem auch einmal das
Scheitern erlaubt ist. Für die Mitarbeiter, deren Stellen aufgrund
des Umbaus wegfallen, ist das freilich wenig tröstlich. Werner von
Siemens etablierte seinerzeit eine Pension-, Witwen- und Waisenkasse
als betriebliche Altersversorgung. Es stände dem Unternehmen gut zu
Gesicht, wenn es beim Stellenabbau die unternehmerische Verantwortung
nicht vergisst. 348 000 Beschäftigte weltweit von vormals knapp 500
000 sind am vorläufigen Ende des Umbau-Prozesses übrig geblieben.
Gerade in Deutschland sind in den vergangenen Jahren massiv Stellen
abgebaut worden. Die Dividende stieg indes in den vergangenen zehn
Jahren beständig, zuletzt auf 3,6 Prozent. Trotz Jobstreichungen und
Verkäufen ist Siemens nach wie vor Arbeitgeber von 114 000
Mitarbeitern in Deutschland. Vier Standorte mit insgesamt 7800
Mitarbeitern unterhält der Konzern derzeit noch in der Oberpfalz.
Ehemalige Töchter wie Osram, Infineon und die an Continental
verkaufte VDO Automotive, an denen Siemens zum Teil noch beteiligt
ist, sind für den Raum Regensburg von großer Bedeutung. Das zeigt
nicht zuletzt die Aufregung um den möglichen Verkauf Osrams an einen
chinesischen Konzern. Was aus seinem Konzern geworden ist, hat von
Siemens nicht mehr miterlebt. Er war schon tot, als seine Nachkommen
in deutschen Konzentrationslagern Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge
ausbeuteten. Er bekam nichts von den zahlreichen Schmiergeldaffären
mit, vom Siemens-Skandal in Japan, der zum Sturz der dortigen
Regierung im Jahr 1914 führte, nicht vom Korruptionsskandal im Jahr
2006, der das systematische Bestechen von Geschäftspartnern
aufdeckte. Wenn Joe Kaeser und seine Vorstands- und
Aufsichtsratskollegen jetzt also den Konzern fit für die kommenden
Jahrzehnte machen wollen, sollten sie nicht nur die Zukunftsfähigkeit
Siemens' im Blick haben, sondern auch zeigen, dass sie aus der
Vergangenheit gelernt haben.
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