(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: Handwerk sieht Absturzgefahr - ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke mahnt die Parteien in Berlin, ihrer Verantwortung gerecht zu werden

Geschrieben am 30-11-2017

Lüneburg (ots) - Die Konjunktur trotzt bisher allen
Herausforderungen aus der Politik. Wie sehr wird die Stimmung im
Handwerk durch die Berliner Hängepartie getrübt?

Holger Schwannecke: Alle Parteien sollten sich daran erinnern,
dass sie eine gesamtstaatliche Verantwortung haben. Vor dem
Hintergrund dieser Verantwortung sollte es möglich werden,
parteipolitische Interessen hintenan zu stellen und tragfähige
Kompromisse zum Wohle unseres Landes zu schließen. Denn nicht nur in
Deutschland erwarten die Bürger Stabilität. Auch unsere europäischen
Nachbarn schauen auf uns. Dieser Verantwortung werden die Parteien
gerade nicht gerecht. Für die deutsche Wirtschaft und die Betriebe
ist diese Hängepartie jedenfalls Gift. Die Betriebe wissen nicht, was
auf sie zukommt und stellen Investitionen und Personalaufbau zurück.
Ein neues Regierungsbündnis sollte aber - nur um es in jedem Fall
zustande zu bringen - keinesfalls den Preis haben, den zukünftigen
Generationen noch mehr Schulden aufzubürden. Sozialpolitische
Verteilungs- und Wohltatenpolitik ist fehl am Platz.

Welche Erwartungen haben die Handwerker an die neue Regierung? Bei
den Jamaika-Sondierungen gab es doch gute Ansätze, etwa im Bereich
energetische Sanierung oder Selbstständigen-Altersgeld.

Schwannecke: Und diese sollten jetzt keinesfalls wieder in der
Schublade verschwinden. Gerade die Regelung der steuerlichen
Förderung bei energetischen Sanierungen von Wohnhäusern liegt seit
Jahren auf Halde und es ist längst überfällig, dass man sich darauf
verständigt. Denn ohne ein Ankurbeln des Sanierungsgeschehens werden
die ambitionierten Klimaziele gar nicht zu erreichen sein. In
wirtschaftlich unsicheren Zeiten werden Hausbesitzer
Investitionsprojekte zweimal überlegen. Steuerliche Anreize sind hier
ein sinnvoller Auslöser. Auch die Altersvorsorgepflicht für
Selbstständige mit Wahlfreiheit zwischen gesetzlicher
Rentenversicherung und privater Vorsorge sollte nicht von der
politischen Agenda fallen, wenn das Problem einer mangelnden
Absicherung von Selbstständigen nicht einfach in die Zukunft
verlagert werden soll. Auf die künftige Regierung warten weitere
dringliche Aufgaben, etwa bei den Themen Digitalisierung, bei der
demografischen Entwicklung und deren Folgen, beim Fachkräftemangel
und beim Ausbau der Infrastruktur. Ungelöst ist auch das Problem der
unfairen Verteilung der Kosten für den Ausbau der Erneuerbaren
Energien. Auch im Bereich der Sozialabgaben sind weitere Belastungen
das letzte, was unsere Betriebe brauchen.

Bedauern Sie den Rückzug der FDP, deren Steuerpläne dem Handwerk
doch zusagen müssten?

Schwannecke: Wichtig ist das Ergebnis - eine belastbare,
entscheidungs- und handlungsfähige Regierung. Um Deutschland
zukunftsfähig zu machen, braucht es gestalterische Entscheidungen.
Die FDP hat die Gelegenheit zur aktiven Regierungsarbeit für sich
nicht wahrgenommen und einen anderen Weg gewählt. Schuldzuweisungen
sind jetzt aber nicht hilfreich. Steuerpolitisch richtig für die
künftige Regierung bleiben zwei Kernanliegen des Handwerks: Der Abbau
der kalten Progression und die Abschaffung des
Solidaritätszuschlages. Das Geld dafür, mittlere und kleinere
Einkommen zu entlasten, ist jedenfalls da.

Wie stark beutelt der Fachkräftemangel das Handwerk? Und wo?
Müssen Sie sich fehlende Ausbildung in der Vergangenheit vorwerfen
lassen?

Schwannecke: Der Fachkräftemangel macht sich in allen Bereichen
bemerkbar. Inzwischen haben 40 Prozent der Betriebe Probleme, offene
Stellen zu besetzen. Das betrifft besonders Lebensmittelhandwerke wie
die Fleischer oder Bäcker, aber auch Bauberufe im Hochbau oder bei
Sanitär, Heizung, Klima. An fehlender Ausbildung in der Vergangenheit
liegt das nicht - unsere Betriebe haben schon immer stärker als
andere Wirtschaftsbereiche ausgebildet. Aber anders als noch vor
einem Jahrzehnt gibt es jetzt immer weniger Schulabgänger. Umso
wichtiger wird es, die jungen Menschen frühzeitig und ganzheitlich
über alle beruflichen Möglichkeiten aufzuklären, eben auch über die
im Handwerk. Konkret bedeutet das, sie nicht nur in Richtung Abitur
und Studium zu schicken, sondern ihnen die Attraktivität einer
beruflichen Bildung aufzuzeigen. Daran müssen alle arbeiten, auch die
Politik.

IT-Kräfte werden quer durch alle Branchen gesucht. Kann das
Handwerk da mithalten?

Schwannecke: IT-Kenntnisse werden auch im Handwerk immer
wichtiger. Unsere Betriebe sind in der Digitalisierung angekommen und
integrieren sie in ihre Arbeitsprozesse und Betriebsmodelle. Wir
unterstützen sie mit bundesweit fünf Kompetenzzentren. Was das
Handwerk für IT-Kräfte interessant macht, ist die Möglichkeit, sich
in einem meist familiären und von Natur aus innovationsfreundlichen
Umfeld einzubringen und zu verwirklichen.

Die Hoffnungen, dass unter den Flüchtlingen massenhaft
Hochqualifizierte sind, haben sich zerschlagen. In München können
bspw. 17 Prozent als Fachkräfte, etwa Gesellen eingesetzt werden.
Setzen Sie auf gezielte Zuwanderungssteuerung?

Schwannecke: Das sind zwei voneinander unabhängige Bereiche. Zum
einen geht es darum, die Menschen, die bei uns Asyl und Schutz
suchen, bei der beruflichen Integration zu unterstützen. Das ist eine
gesamtgesellschaftliche und langfristige Aufgabe, Flüchtlingen die
Voraussetzungen für eine Teilnahme an unserem gesellschaftlichen
Leben zu schaffen. Hier bringt sich das Handwerk engagiert ein. Auf
diese Weise lässt sich unser Fachkräfteproblem als solches aber nicht
lösen. Zum anderen geht es deshalb um eine gesteuerte und am
Arbeitsmarkt orientierte Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte, die
wir brauchen. Hier hat man bislang zu sehr die gut ausgebildeten
Akademiker in den Blick genommen. Ein neues Einwanderungsgesetz muss
den Fokus auf beruflich Qualifizierte legen und bestehende
komplizierte Regelungen zusammenfassen und verständlicher machen.

Kann das Handwerk die vielen Ungelernten gebrauchen? Finden Sie
unter den Flüchtlingen passende Bewerber für Lehrstellen? Decken sich
die Berufswünsche der Zugewanderten mit den Mangelberufen?

Schwannecke: Das fällt sehr unterschiedlich aus. Manche bringen
ihrerseits Kenntnisse und Qualifikationen in bestimmten Berufen mit,
anderen muss man den Wert einer beruflichen Ausbildung erst einmal
vermitteln. Man darf nicht vergessen, dass viele, die zu uns gekommen
sind, den Druck spüren, schnell Geld verdienen zu wollen, um etwa
Schulden abzuzahlen oder ihre Familien daheim zu unterstützen.
Gebrauchen können wir jeden im Handwerk, auch die, bei denen wir erst
die Voraussetzungen schaffen müssen. Die höchste Hürde dabei sind
jedoch nicht fehlende fachliche Kenntnisse, sondern zunächst die
sprachlichen Fähigkeiten. Sprachkenntnisse sind unerlässlich, um in
Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Hier wünschen wir uns mehr
Unterstützungsangebote für die Betroffenen.

Weitgehend Einigkeit herrscht in der Politik über die
Notwendigkeit, an Grundschulen und Gymnasien nachbessern zu müssen.
Fallen die Berufsschulen dabei hintenüber?

Schwannecke: Klar ist, dass wir die berufliche Bildung wieder
attraktiver für junge Menschen machen müssen, wenn wir wirtschaftlich
weiter wettbewerbsfähig sein wollen. Denn eine gut laufende
Volkswirtschaft braucht ein breites, leistungsstarkes
Facharbeiterfundament. Dazu gehört es auch, Jugendlichen an den
Bildungsstätten eine Top-Ausbildung gewährleisten zu können. Lange
hat sich die Politik mit dem Hochschulpakt auf die sekundäre
Ausbildung konzentriert und diese nach vorne gebracht - die
Berufsschulen blieben währenddessen auf der Strecke zurück. Das ist
nicht die Art von Gleichwertigkeit, die wir den jungen Menschen
vermitteln wollen. Wir brauchen einen Berufsbildungspakt, der die
Bildungsstätten des Handwerks stärkt, die die überbetriebliche
Ausbildung und Weiterbildung sichern, ebenso wie die Berufsschulen.
Wenn die jungen Menschen auf den derzeitigen Markt optimal
vorbereitet sein sollen, muss sich das in der Ausstattung der
Bildungsstätten wider-#spiegeln. Dafür braucht es Geld.

Studenten können mit Glück 100 Prozent ihrer Kosten durch das
BaföG decken, angehende Handwerksmeister nicht. Muss da nachgebessert
werden?

Schwannecke: Es ist eine klare Benachteiligung, wenn jemand seinen
Meister nicht machen kann, weil ihm die finanziellen Mittel fehlen,
man andererseits jedoch Studenten diese Hürde aus dem Weg räumt,
indem man sie entsprechend finanziell unterstützt. Auch hier gilt:
Wenn wir von Gleichwertigkeit der Ausbildungswege sprechen, dann darf
diese nicht an der Geldbörse enden. Den Meister muss sich jeder
leisten können. 100 Prozent Kostenerstattung wären angemessen, damit
nicht nur jeder in Deutschland studieren, sondern auch jeder, der
möchte, Meister werden kann.

Ist der Meisterbrief nur ein mittelalterliches Relikt oder der
Qualitätsgarant?

Schwannecke: Meisterhaftes Können fällt nie aus der Zeit. Als
Qualitätssiegel bleibt der Meisterbrief im Handwerk das Maß aller
Dinge. Er steht für Verbrauchersicherheit, höchste Ansprüche und für
die Verlässlichkeit einer Dienstleistung. Er steht darüber hinaus in
entscheidender Weise für die deutsche Ausbildungsleistung. 95 Prozent
aller Auszubildenden im Handwerk werden in Meisterbetrieben
ausgebildet. Ohne Meisterbrief kein Know-how in der Zukunft.

Erwarten Sie weitere Vorstöße der EU, den Meisterzwang
abzuschaffen?

Schwannecke: Derzeit hören wir wenig, aber der letzte Angriff ist
noch nicht lange her. Mit Unterstützung der deutschen Politik haben
wir Brüssel im Sommer gezeigt, dass der Meisterbrief nicht zur
Disposition steht. Die gefundenen Kompromisse sichern ab, dass der
Meisterbrief in den derzeit 41 Handwerksberufen erhalten bleibt. Der
nächste Schritt wird nun sein, dass diese Kompromisse noch vom
Europaparlament bestätigt werden. Wir behalten das im Auge.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

616661

weitere Artikel:
  • Straubinger Tagblatt: Arbeitsmarkt - Herausforderungen trotz Jobboom Straubing (ots) - Bislang ist der Politik wenig eingefallen, was Langzeitarbeitslosen aus ihrer Misere verhilft. Es hat auch etwas mit Würde zu tun, diese Menschen vom Abstellgleis zu holen. Das ist auch wichtig, weil zunehmend Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt streben. Sie müssen fit für die Betriebe gemacht werden. Damit sie nicht massenhaft Geringqualifizierten Konkurrenz machen, die es dann noch schwerer hätten, auf dem Stellenmarkt wieder Fuß zu fassen. Wenn es gelingt, die Potenziale der Flüchtlinge klug zu nutzen, können viele mehr...

  • AGT International zeigt auf der re:INVENT 2017 den innovativen Einsatz von IoT-Analytics für Live-Sport-Events Las Vegas, Darmstadt (ots) - - AGT und HEED präsentieren auf der AWS re:Invent erstmals eine IoT-basierte Plattform, die eine neue Art des Erlebnisses von Live-Sport-Events über automatisch generierte und personalisierte Inhalte in Echtzeit ermöglicht. - AGT nutzt Sensorik und Künstliche Intelligenz (KI), um komplexe Zusammenhänge in Sportevents vollständig zu entschlüsseln und über die HEED-Plattform neuartige Einblicke in das reale Geschehen zu liefern und an die individuellen Interessen der Fans anzupassen. mehr...

  • WAZ: Für ideologische Kämpfe ungeeignet - Kommentar von Stefan Schulte zur Bürgerversicherung Essen (ots) - Nichts ist zwischen den ansonsten so glattgeschliffenen Volksparteien derart ideologisch aufgeladen wie das Gesundheitswesen. Dabei eignet es sich denkbar schlecht für Prinzipienreiterei. Unser Zwei-Klassen-System gibt es in dieser Form kein zweites Mal auf der Welt - und seine Schwächen sieht jeder. Es muss also erlaubt sein, Grundsatzfragen wie die nach der Solidarversicherung für alle zu stellen. Zumal der Privaten Krankenversicherung (PKV) nach teils horrenden Beitragserhöhungen seit Jahren Mitglieder weglaufen, mehr...

  • WAZ: Alte Probleme - neue Sorgen - Kommentar von Michael Kohlstadt zu den Kommunalfinanzen im Revier Essen (ots) - Es geht aufwärts im Revier. Erstmals erwirtschaften Ruhrgebietskommunen wieder bescheidene Überschüsse. Einige bauen sogar Schulden ab. Fast alle sind dabei, ihre seit Jahren in bedenklicher Schieflage steckenden Haushalte ins Lot zu bringen. Gute Nachrichten gibt es auch auf dem Arbeitsmarkt. Die Zahl der Erwerbslosen sinkt seit Monaten, im November sogar stärker als im Landesdurchschnitt. Die gute Konjunktur kommt an im größten Ballungsraum des Landes, den manche für d i e Problemregion des Westens halten. mehr...

  • AutoMobility LATM der Los Angeles Auto Show präsentiert die Gewinner des Hackathon 2017 EPAM Systems, Team Wing und Tribal Scale auf den ersten drei Plätzen in dem von Honda Innovations (http://www.hondainnovations.com/) gesponserten Wettbewerb Los Angeles (ots/PRNewswire) - Die Los Angeles Auto Show (http://www.laautoshow.com/) (LA Auto Show®) und ihre Technologie-Messe AutoMobility LATM (http://www.automobilityla.com/) haben bei einer Präsentation im Technologie-Pavillon am Los Angeles Convention Center die drei Gewinner des diesjährigen Hackathon vorgestellt. Mit Hilfe des vorausschauenden Fahrassistenzsystems mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Wirtschaftsnews

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

DBV löst Berechtigungsscheine von knapp 344 Mio. EUR ein

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht