Heilbronner Stimme: Wolfgang Schäuble: Offene Grenzen sind in Europa kein wirkliches Problem. Bundestagspräsident warnt vor neuer Debatte über Grenzverläufe.
Geschrieben am 10-07-2018 |
Heilbronn (ots) - Bundestagspräsident Wolf Schäuble fordert die
Europäer zu mehr Einheit auf. Im Interview mit der "Heilbronner
Stimme" (Dienstag) betonte der christdemokratische Politiker zudem
die Bedeutung offener Grenzen: "Es ist unbestritten, dass die offenen
Grenzen innerhalb Europas kein wirkliches Problem sind. Im Gegenteil:
Wir profitieren von ihnen." Aber weil eben diese Offenheit
selbstverständlich geworden sei, so Schäuble, "droht der höhere Sinn
eines einigen Europas verloren zu gehen. Unter den neuen
Herausforderungen muss es der Politik künftig besser gelingen, den
Menschen dieses prioritäre Interesse zu vermitteln".
Der Bundestagspräsident fügte hinzu: "Manchmal kann es ermüdend
sein zu hören, es gehe doch um "deutsche Interessen". Es gibt kein
besseres deutsches Interesse als die europäische Einigung!" Der
Politiker, der seit 1972 dem Bundestag angehört, betonte, Isolation
helfe niemandem in Europa, und: "Das muss man wieder und wieder
erklären. Das ist die Aufgabe von Politik, aber es ist angesichts der
heutigen Informationsflut schwieriger geworden."
Schäuble warnt auch vor einer Debatte über Grenzverläufe: "Die
Menschen wollen nicht in einem Europa leben, in dem die Grenzen
wieder hermetisch abgeriegelt sind. Wenn wir Grenzen wieder
kontrollieren würden, dann wären wir bald auch wieder zu einem
Zustand zurückgekehrt, in dem über Grenzen an sich gestritten wird."
Weltweit gebe es 60 bis 70 Millionen Flüchtlinge, die wenigsten
befänden sich in Europa. Der Bundestagspräsident betonte: "Manche
befürchten jedoch: sie sind noch nicht in Europa, sie werden aber
noch kommen. Unser Werte-Verständnis verpflichtet uns, Menschen, die
in Not sind, nach besten Kräften zu helfen." Die Grundfrage sei: "Wie
schaffen oder erhalten wir eine Ordnung, in der die Menschen in
Freiheit und gleichzeitig so zusammenleben, dass es funktioniert? Er
betonte weiter: "In der Migrationsfrage gibt es jedenfalls keine
einfachen Lösungen. Es muss nur klar sein, dass es Grenzen der
Belastbarkeit gibt. Auch in meiner Partei gab es Stimmen, dass das
Flüchtlingsthema kleiner wird, wenn wir nur weniger darüber sprechen
würden. Aber ich bin anderer Meinung." Die Menschen treibe doch die
Frage um: "Wie bekommen wir es einigermaßen hin? Ein Staat, der sich
selbst etwas zutraut, kann das schaffen, sollte es schaffen. Aber man
darf die Zweifel nicht verharmlosen."
Notwendig sei ein starkes und einiges Europa auch mit Blick auf
das Thema Migration: "Wir sehen und spüren nun konkret, was die
Globalisierung für uns bedeutet und mit uns macht - ob es uns gefällt
oder nicht. Wir sind mit den Auswirkungen der Entwicklungen in allen
Teilen der Welt, insbesondere in Afrika und auf der anderen Seite des
Mittelmeeres, sehr intensiv und direkt konfrontiert. Diese Erkenntnis
geht mit meiner tiefen Überzeugung einher, dass wir ein starkes,
einiges und handlungsfähiges Europa brauchen." Er betonte weiter:
"Wir haben jedenfalls im Zeitalter der Globalisierung keine gute
Zukunft, wenn wir Europäer nicht gemeinsam handeln."
Auf die Frage, ob ein einiges Europa mehr außenpolitische
Verantwortung übernehmen sollte, sagte er: "Davon bin ich überzeugt.
Ich erinnere an John F. Kennedy, der schon vor über 50 Jahren die
Europäer aufgefordert hat, mehr von den gemeinsamen Lasten zu
übernehmen. Angela Merkel, Emmanuel Macron und viele andere arbeiten
daran, Europa relevanter zu machen. Das ist auch notwendig. China ist
wieder zu einer historischen Rolle gekommen, die es weit mehr als 100
Jahre nicht hatte. Auch Indien ist nicht zu unterschätzen, ein
wahnsinnig kompliziertes Land, aber immerhin mit einer demokratischen
Grundstruktur. Dann sind da ganz Asien, Afrika und Lateinamerika mit
vielschichtigen Problemen. Und Putin, unter dem Russland die von ihm
so empfundene Demütigung des Zusammenbruchs des sowjetisch
dominierten Imperiums ein Stück weit überwunden hat. Wir müssen heute
mehr denn je darauf achten, dass in dieser komplizierten Welt
Konflikte nicht mit Gewalt ausgetragen werden."
Der frühere CDU-Bundesvorsitzende betonte die Notwendigkeit, dass
die Unionsparteien trotz des Asylstreits weiterhin zusammenarbeiten.
CDU und CSU hätten als Volkspartei stets eine "stabilisierende
Funktion für unser ganzes parlamentarisches System" gehabt.
Zur Lage in Deutschland sagte er: "Bei allen wirtschaftlichen
Erfolgen darf man nicht glauben, dass alleine der Boom allen Menschen
hilft. Viele scheitern zum Beispiel oft schon daran, eine bezahlbare
Wohnung zu finden."
Schäuble sieht in der Weltpolitik die Zeit für neue Bündnisse
gekommen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seien neue,
vielschichtige Konflikte entstanden, die eine Führungsmacht wie die
USA allein nicht lösen könne. "America First reicht nicht. Wir
brauchen deshalb heute mehr multilaterale Bündnisse."
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