Mittelbayerische Zeitung: Brexit-Dämmerung in London / Das in Brüssel aufgeführte Drama zeigt Wirkung: Die Austrittsbefürworter auf der Insel spucken plötzlich leise Töne. Von Daniela Weingärtner
Geschrieben am 23-11-2018 |
Regensburg (ots) - Man reibt sich die Augen. Sämtliche
Brexitbeobachter hatten als größte Hürde für einen geordneten
Ausstieg Britanniens aus der EU die Abstimmung im britischen
Unterhaus angesehen. Nun zeigt sich, dass noch von ganz anderer Seite
Hindernisse aufgetürmt werden. Spanien stellt sich quer, weil es
seine Interessen in Gibraltar nicht angemessen berücksichtigt findet.
Der "Affenfelsen" an der Südspitze der iberischen Halbinsel ist einer
größeren Öffentlichkeit allenfalls als touristisches Kuriosum
bekannt, wo in andalusischer Landschaft rote Telefonhäuschen stehen.
In EU-Verträgen allerdings gehört die von Spanien durchgesetzte
Fußnote, dass der Status des Territoriums als britisches
Hoheitsgebiet nicht für alle Zeiten festgeschrieben werden dürfe, zum
festen Repertoire. Zwar hat die britische Krone dort seit 1704 das
Sagen. 1713 verzichtete der spanische Staat im Frieden von Utrecht
auf das Gebiet. Doch der Stachel scheint auch nach über drei
Jahrhunderten unverändert zu schmerzen. Wer einen Hinweis auf die 6,5
Quadratmeter große Enklave im Entwurf des Rückzugsvertrags zwischen
der EU und dem Vereinigten Königreich sucht, wird schon in Artikel
drei fündig. Er legt fest, dass alle Übergangsvereinbarungen auch für
Gibraltar gelten. Doch auch die entsprechende Fußnote fehlt nicht.
Sie verweist auf das de-facto-Vetorecht, das sich Madrid schon im
April 2017 von den anderen 26 in der EU verbleibenden
Mitgliedsstaaten hat zusichern lassen. Es besagt, dass jeder künftige
Partnerschaftsvertrag nur dann auf Gibraltar angewendet werden darf,
wenn Spanien und Großbritannien dem ausdrücklich zustimmen.
Querverweise, Fußnoten und Zusatzprotokolle sind im europäischen
Geschäft eine sehr übliche Methode, um schwelende Konflikte zu
vertagen. Die Suche nach der letztgültigen Vereinbarung gleicht, wie
auch im aktuellen Fall, häufig einer juristischen Schnitzeljagd. Das
eröffnet Politikern die Möglichkeit, ein Thema je nach taktischen
Erwägungen ruhen zu lassen oder wieder aus dem Hut zu ziehen. Die
Regierung unter Pedro Sanchez hat sich vermutlich mit Blick auf die
Regionalwahlen in Andalusien Anfang Dezember für Letzteres
entschieden. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass Sanchez die
Nerven hat, am Sonntag sowohl Chefunterhändler Michel Barnier als
auch der geschlossenen Front aller anderen EU-Staaten inklusive
Großbritannien die Stirn zu bieten. Dann wäre er der Mann, der einen
geordneten Austritt verhindert hat und das prognostizierte Chaos für
Unternehmen, Beschäftigte und in Spanien ihren Lebensabend
verbringende Briten zu verantworten hätte. Sein demonstratives
Eintreten für spanische Belange wird den zunächst als Stippvisite
eingestuften Brüsselgipfel vielleicht in die Länge ziehen. Platzen
wird er deshalb kaum. Möglicherweise hat das in Brüssel aufgeführte
Drama positiven Einfluss auf die Vorgänge in London. Je größer
nämlich die Gefahr wird, dass Großbritannien ohne Übergangsvertrag
aus der EU rutscht, desto leisere Töne spucken die Brexitbefürworter
im Parlament. Vielen scheint jetzt erst zu dämmern, was ein harter
Brexit für die britische Wirtschaft, für die Versorgung mit
zahlreichen Importgütern wie Medikamenten und für Reisen auf dem
Kontinent bedeutet. Sogar die Aussicht, über die eigene
Landesverteidigung und die innere Sicherheit endlich wieder souverän
bestimmen zu können, scheint bei näherer Betrachtung an Strahlkraft
zu verlieren. Ausgerechnet Großbritannien, das sowohl beim
Informationsaustausch der Geheimdienste als auch bei
Verteidigungsfragen seine transatlantischen Bindungen stets höher
einschätzte als die Mitgliedschaft in der EU, hat in die Erklärung
über die zukünftige Zusammenarbeit hineinschreiben lassen, dass in
beiden Bereichen auch nach dem Austritt eng kooperiert werden soll.
Vielleicht erwächst aus dem Brexitdrama am Ende sogar eine richtig
nette neue Nachbarschaft.
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