30. Schmerz- und Palliativtag / Exzellenzsymposium / "Mit Standards brechen und Fragen stellen"
Geschrieben am 07-03-2019 |
Frankfurt (ots) - "Nicht alles, was beweisbar ist, ist wichtig für
die Schmerzmedizin. Wir müssen zurückkehren zur ärztlichen Kunst des
Fragens, Zuhörens und der Empathie." Mit diesen Worten eröffnete der
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS)
Dr. med Johannes Horlemann den 30. Schmerz- und Palliativtag in
Frankfurt und erklärte damit auch das diesjährige Motto
"Individualisierung statt StandardisierungDieses sei angesichts der
Evidenzlage und Leitlinienflut entstanden, die jedoch nicht die
Individualität der Patienten berücksichtigten.
Für viele Ärzte und Schmerzmediziner ist der Schmerz- und
Palliativtag seit 30 Jahren ein Fixpunkt im Jahreskalender. "Hier
trifft man sich, um weiser und klüger zu werden und besser gerüstet
zu sein für die Patienten", erläuterte der Präsident der Deutschen
Schmerzliga (DSL) und DGS-Vizepräsident Dr. Michael A. Überall. Doch
noch lange sei nicht alles gesagt und noch immer könne man nicht
allen Patienten helfen - trotz evidenzbasierter Leitlinien. Denn in
monomorbiden Leitlinien ließen sich multimorbide Patienten eben nicht
darstellen. "Die individuellen Bedürfnisse der Patienten entsprechen
nicht der Evidenz. Um diese zu berücksichtigen helfen Aufklärung,
Zuwendung, Gespräche, Zeit und Empathie" - und die
DGS-PraxisLeitlinien als Gegenentwurf zu den evidenzbasierten
Leitlinien.
"Waz wirret dier? (Was quält dich?)" Über den Schmerz und das
Reden
Wie wichtig Reden und Mitgefühl sind, erläuterte Prof. Dr. Jan
Philipp Reemtsma im anschließenden Exzellenzsymposium. Unter dem
Titel "Waz wirret dier? Der Schmerz und das Reden" stellte der
Literatur- und Sozialwissenschaftler und Publizist zwei bedeutsame
Beispiele der Literatur vor, in denen der Schmerz das zentrale Thema
ist: Zum einen Sophokles' griechische Tragödie Philoktetes, zum
anderen das Parzival-Epos von Wolfram von Eschenbach.Philoktetes wird
im Trojanischen Krieg von seinen Gefährten wegen einer schweren,
unheilbaren Fußverletzung auf der einsamen Insel Lemnos ausgesetzt
und dort zehn Jahre sich und seinem Schmerz überlassen. "Das Leiden
nicht mitteilen zu können, ist für ihn das Schlimmste. Lieber würde
er sich den Fuß abhacken, als weiter den Schmerz zu ertragen. Das
kennen Sie sicher auch von Ihren Patienten", so Reemtsma an das
Publikum gerichtet. Deutlich besser, da nicht allein gelassen, ergeht
es dagegen dem König Amfortas im Parzival-Epos. Der Gralshüter ist
durch einen vergifteten Speer schwer verwundet und zu jammervollen
Leiden verdammt. Er wird letztlich von den Schmerzen seiner
Kampfwunde erlöst, weil Parzival mit der Konvention bricht, "nicht zu
viele Fragen zu stellen". Doch genau die Frage an seinen Onkel
"Oheim, waz wirret dier?" (Was quält dich?) wirkt am Ende wie ein
Zauberspruch, die Wunde heilt. "Sie sehen, man muss auch mal mit den
Konventionen brechen und Fragen stellen", so Reemtsmas Fazit, womit
er den Bogen zum Kongressmotto schloss.
Prof. Dr. phil. Jan Philipp Reemtsma, geboren 1952, lebt und
arbeitet vorwiegend in Hamburg. Er ist Gründer und geschäftsführender
Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und
Kultur; Gründer und bis März 2015 Leiter des Hamburger Instituts für
Sozialforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des 18.
und 20. Jahrhunderts, Zivilisationstheorie sowie die Geschichte der
menschlichen Destruktivität.
Weiterführende Links:
www.schmerz-und-palliativtag.de
www.dgschmerzmedizin.de
www.schmerzliga.de
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