Allg. Zeitung Mainz: Gut verfasst / Friedrich Roeingh zu 70 Jahre Grundgesetz
Geschrieben am 22-05-2019 |
Mainz (ots) - Wer die Kühnheit des Grundgesetzes erfassen will,
braucht nur auf zwei Artikel zu schauen. Artikel 3, "Männer und
Frauen sind gleichberechtigt" und Artikel 102, "Die Todesstrafe ist
abgeschafft". Wenn wir heute die Abschaffung der Todesstrafe aus der
Überwindung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft herleiten,
dann ist das nicht falsch und doch ist es geschichtsvergessen. Als
die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes die Todesstrafe -
nach heftigsten Auseinandersetzungen - als Unrecht geißelten, war sie
noch in allen vier Siegermächten legitimiert und wurde vielfach
vollstreckt. Artikel 102 entfaltete vom ersten Geltungstag des
Grundgesetzes an seine Wirkung. Die Norm von der Gleichberechtigung
von Mann und Frau war dagegen 1949 eher Utopie denn gesellschaftliche
Realität. Erst 1958 durften Ehefrauen ohne Einwilligung ihres Mannes
den Führerschein machen, 1962 ein Konto eröffnen und 1977 - nach
Abschaffung der "Hausfrauen-Ehe" - einen Beruf ergreifen. Erst 1997
wurde die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.Der Stolz
der (West)deutschen auf ihre freiheitliche und fortschrittliche
Verfassung paarte sich also zumindest in Fragen der
Gleichberechtigung über viele Jahrzehnte mit Ignoranz. Der Stolz auf
das Provisorium namens Grundgesetz war unter den Deutschen gleichwohl
unbestritten und stützte sich natürlich auf die historischen
Umstände. Nach dem industriellen Völkermord der Nazis war das
Grundgesetz eine Art Rückfahrkarte in die zivilisierte Welt, wobei
die Väter der Verfassung - siehe Abschaffung der Todesstrafe - den
Besatzern keineswegs nach dem Mund redeten. Das Grundgesetz wurde zum
Identifikationsanker der (West)Deutschen, weil die (geteilte) Nation
und ihre (belastete) Geschichte als Identifikationsanker nicht zur
Verfügung standen. Und weil die deutsche Kultur im Angesicht der DDR
nichts Exklusives hatte. Die Klugheit und die Kühnheit des
Parlamentarischen Rates aber wurde für den Prozess der deutschen
Einheit gewissermaßen zum Verhängnis. Weil sich die Westdeutschen
keine bessere Verfassung vorstellen konnten, weil sie inzwischen an
ihrem Grundgesetz hingen, ignorierten sie das Provisorium, das dieser
Verfassung eigentlich auferlegt worden war. So wurde die deutsche
Einheit aus Sicht der alten Bundesrepublik zu einer Art
Gebietsreform, die die armen Brüder im Osten in ihre prosperierende
Wirtschaftsordnung und die gut ausgestatteten Sozialsysteme aufnahm.
Zum Identitätsanker konnte das Grundgesetz in Ostdeutschland so nie
werden. Eine Hypothek, die sich leider nicht tilgen lässt. Und in
Zeiten beschleunigter Zuwanderung und zur Zeit des Erstarkens der
Rechtspopulisten stellt sich allen Verfassungspatrioten eine ganz
neue Herausforderung. Sie müssen lernen, dass nicht alle, die die
Freiheiten des Grundgesetzes in Anspruch nehmen, diese auch
wertschätzen. Wir müssen jeden Tag und gegenüber jedermann darauf
bestehen, dass das Grundgesetz gilt. Der gute Staatsbürger schützt
seine Verfassung ebenso, wie die Verfassung ihre Staatsbürger
schützt.
Pressekontakt:
Allgemeine Zeitung Mainz
Zentraler Newsdesk
Telefon: 06131/485946
desk-zentral@vrm.de
Original-Content von: Allgemeine Zeitung Mainz, übermittelt durch news aktuell
Kontaktinformationen:
Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.
Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.
Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.
http://www.bankkaufmann.com/topics.html
Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.
@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf
E-Mail: media(at)at-symbol.de
687722
weitere Artikel:
- Die TSG-Reform ist keine Verbesserung, Frau Barley Berlin (ots) - Vor nicht ganz zwei Wochen haben Innen- und
Justizministerium gemeinsam einen Entwurf zu einer Reform des
"Transsexuellengesetzes" vorgelegt. Nach heftiger Kritik von
Betroffenenverbänden verteidigt Justizministerin Barley den Entwurf
nun.
Sie gibt an, sich für eine bessere Reform eingesetzt zu haben,
diese sei aber am Koalitionspartner gescheitert. [1] Das wäre auch
noch nachvollziehbar, da weder CDU noch CSU für ihre progressive
Einstellung zur LGBTIQ*-Community bekannt sind. So stimmt es auch,
dass die Reform mehr...
- Rheinische Post: Kommentar: Die Mutigen zeigen, was in ihnen steckt Düsseldorf (ots) - Iglo und Danone preschen mutig vor: Mit der
Einführung der Nährwertkennzeichnung Nutriscore übernehmen sie ein
System, das von vielen Verbraucherschützern befürwortet und gefordert
wird. Dass das Herstellern von Süßwaren nicht schmeckt, ist klar.
Niemand druckt gern freiwillig rote oder orange Bewertungen auf seine
Produkte. Doch Transparenz kommt beim Verbraucher gut an. Und siehe
da: Ein Schokopudding von Danone hat auch "nur" eine orange
Bewertung, die zweitschlechteste im Nutriscore-System. Es geht also
doch. mehr...
- Rheinische Post: Kommentar: Investition in Zukunft Düsseldorf (ots) - Der Unmut der freien Träger ist verständlich.
Zu lange schon krebsen die Kitas am finanziellen und personellen
Limit. Entsprechend groß waren die Erwartungen an die Reform des
Kinderbildungsgesetzes (KiBiz) in NRW. Jetzt, da der Gesetzentwurf
vorliegt, wird deutlich: Es fließt zwar eine Menge mehr Geld in die
frühkindliche Bildung. Doch der Rückstand ist so groß, dass selbst
jährlich 1,3 Milliarden Euro zusätzlich nicht ausreichen. Diese Summe
wird bei vielen Trägern schon durch die gestiegenen Personal- und
Sachkosten mehr...
- Rheinische Post: Kommentar: Zu viel Kohle Düsseldorf (ots) - Der Kohleausstieg ist beschlossen, und keiner
kann der Politik ernsthaft vorwerfen, sie lasse die Kohlereviere
hängen. Im Gegenteil: Der Ausstieg wird mit sehr viel Steuergeld
abgefedert. Als erstes macht der Bund den Weg frei für 40 Milliarden
Strukturhilfen. Hinzu kommen Gelder für die Frühverrentung von
zehntausenden Beschäftigten und Milliarden an Entschädigung für RWE
und Co. Alles hat eben seinen Preis, erst recht die Enteignung von
Unternehmen. Bei den Strukturhilfen fällt das Füllhorn gar zu üppig
aus. mehr...
- Stuttgarter Nachrichten: Kommentar zu den Vorschlägen der SPD zur Grundrente Stuttgart (ots) - Eines muss man dem Bundessozialminister lassen:
Wenn es um sein Lieblingsprojekt geht, lässt sich Hubertus Heil von
nichts und niemandem beirren - vom skeptischen Koalitionspartner
nicht, vom politischen Gegner nicht und vom Zustand der öffentlichen
Kassen erst recht nicht. Wenige Tage vor der Europawahl hat Heil sein
Konzept zur neuen Grundrente vorgestellt. Es geht um viel Geld und
die nicht ganz triviale Frage, was sozial gerecht ist und wie viel
Sozialpolitik sich das Land noch leisten will. Für die SPD geht es mehr...
|
|
|
Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten
Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:
LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre
durchschnittliche Punktzahl: 0 Stimmen: 0
|