BERLINER MORGENPOST: Ein ungeheurer Verdacht / Leitartikel von Miguel Sanches zum Mordfall Lübcke
Geschrieben am 17-06-2019 |
Berlin (ots) - Kurzform: Die Unschuldsvermutung gilt auch für den
Verdächtigen im Fall Lübcke. Es kann sich herausstellen, dass der
45-Jährige unschuldig ist; oder, dass der Mann zwar zweifelsfrei als
Täter überführt wird und Kontakte zu Neonazis hat, der Mord
gleichwohl aus anderen Motiven verübt worden ist. Vieles erscheint
rätselhaft und bedarf der Aufklärung, im Schuldfall zum Beispiel
schon noch die Frage, ob der Verdächtige allein gehandelt hat oder
als Teil eines Netzwerks. Hatte er Komplizen? Im Hinterkopf hat man
da unweigerlich den NSU-Terror. Sollte sich zweifelsfrei
herausstellen, dass Lübcke Opfer eines politischen Mordes war, nimmt
sein Fall eine neue Dimension an - aber erst dann, nur dann.
Der vollständige Leitartikel: Unter den unsäglich vielen
Verschwörungstheorien wurde gleich nach dem Mord an Walter Lübcke der
Verdacht geäußert, dass er Opfer eines ideologischen Hass-Mörders
gewesen sein könnte. Ein ungeheurer Verdacht, der sich erhärtet hat.
Der Generalbundesanwalt hätte die Aufklärung andernfalls bei den
hessischen Behörden belassen. Wenn er Ermittlungen an sich zieht, hat
es Signalcharakter: In Karlsruhe geht man von einer politischen
Gewalttat aus, von einem Einzeltäter mit rechtsextremistischem
Hintergrund. Halten wir zunächst die Fakten fest: Wie so viele
Menschen, die Flüchtlingen geholfen und Angela Merkels "Wir schaffen
das" beherzigt haben, wurde der Regierungspräsident in Kassel häufig
und heftigst angefeindet, bis hin zu Morddrohungen. Seine Würde wurde
sogar über den Tod hinaus verletzt, nachdem viele User im Internet
ihre Freude darüber geäußert hatten. Gegen den Mann, der jetzt
verhaftet wurde, spricht eine DNA-Spur. Zum Bild passt, dass er
polizeibekannt, gewalttätig war und Kontakte zum rechten Milieu
hatte. Das gibt dem Fall Lübcke vollends eine sehr politische und
zugleich sehr unheilvolle Wendung. Seit den Verbrechen der
NSU-Terrorbande kann sich keine Sicherheitsbehörde leisten, das
kriminelle (Gewalt-)Potenzial der Szene zu unterschätzen. Schon die
relativ hohe Zahl von "offenen", also bislang nicht vollstreckten
Haftbefehlen, ruft ein Unbehagen hervor. Ein Polizeiversagen darf
sich nicht wiederholen. Gerade der Generalbundesanwalt hat in den
vergangenen Jahren keinen Zweifel aufkommen lassen, dass er
sensibilisiert ist. Das hat er mehrfach bewiesen. Das belegt zum
einen der Fall des Bundeswehroffiziers Franco A., wo die Beweislage
freilich dünn ist; es gibt eher Indizien als handfeste Beweise. Zum
anderen sind da die Ermittlungen gegen die mutmaßliche Terrorgruppe
"Revolution Chemnitz", einem Führungskader rechter Hooligans,
Skinheads, Neonazis und Angehörigen der Rechtsrock-Szene. Hier dürfte
eine Anklage nur eine Frage der Zeit sein. Dass die Szene nicht nur
verbalradikal ist, zeigten in der jüngsten Vergangenheit bereits die
Messerattacken auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und
auf ihren Kollegen aus dem sauerländischen Altena. Es gibt durchaus
ein Muster, das zum Fall Lübcke passt. Indes, ein Muster, ein
Verdacht, eine Verhaftung, eine Spur, ja, die beste,
differenzierteste Anklage ist kein Schuldspruch. Die Beweiswürdigung
obliegt dem Gericht. Ein gewissenhafter Richter muss jeden Stein
umdrehen. Im Rechtsstaat muss jeder so lange als unschuldig angesehen
werden, bis er von einem Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist.
Die Unschuldsvermutung gilt auch für den Verdächtigen im Fall Lübcke.
Es kann sich herausstellen, dass der 45-Jährige unschuldig ist; oder,
dass der Mann zwar zweifelsfrei als Täter überführt wird und Kontakte
zu Neonazis hat, der Mord gleichwohl aus anderen Motiven verübt
worden ist. Vieles erscheint rätselhaft und bedarf der Aufklärung, im
Schuldfall zum Beispiel schon noch die Frage, ob der Verdächtige
allein gehandelt hat oder als Teil eines Netzwerks. Hatte er
Komplizen? Im Hinterkopf hat man da unweigerlich den NSU-Terror. Dass
Grüne, FDP und Linke umgehend eine Sondersitzung des Innenausschusses
im Bundestag gefordert haben, ist ein Reflex, den sie besser
unterdrückt hätten. Zu diesem frühen Stadium können die Ermittler
nicht viel sagen. Man muss den Fall nicht extra politisieren. Sollte
sich zweifelsfrei herausstellen, dass Lübcke Opfer eines politischen
Mordes war, nimmt sein Fall eine neue Dimension an - aber erst dann,
nur dann.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/887277 - 878
bmcvd@morgenpost.de
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