Allg. Zeitung Mainz: Liebesentzug / Kommentar von Jens Kleindienst zur Bürgermeisterwahl in Istanbul
Geschrieben am 24-06-2019 |
Mainz (ots) - Es war nur eine Bürgermeisterwahl. Dennoch schaut
die politisch interessierte Weltöffentlichkeit in diesen Tagen
fasziniert auf Istanbul. Dort lässt sich gerade beobachten, wie ein
autoritär regierender, scheinbar unbesiegbarer Politprotz vom
Wahlvolk in die Schranken gewiesen wird, ein bisschen zumindest. Vom
nahen Sturz Recep Tayyip Erdogans kann aber keine Rede sein, auch
wenn es in seiner Regierungspartei AKP heftig gären soll. Doch könnte
sich die von ihm erzwungene Wahlwiederholung in der Millionenstadt
als Wendepunkt im Ringen um die Zukunft der Türkei erweisen. Erdogans
politischer Aufstieg begann einst als Bürgermeister am Bosporus;
vielleicht konnte er deshalb nicht ertragen, dass die Istanbuler Ende
März nicht den farblosen Kandidaten seiner Partei ins Rathaus
wählten, sondern einen fleißig-biederen Bezirksbürgermeister, wenn
auch nur mit ein paar 1000 Stimmen Vorsprung. Diese Form von
Liebesentzug sollte das Wahlvolk korrigieren, so der Wunsch des
Präsidenten. Von wegen: Am Sonntag stimmten auch hunderttausende
AKP-Anhänger für Ekrem Imamoglu, den Kandidaten der Oppositionspartei
CHP. Sie taten das trotz eines Dauerfeuers der ganz überwiegend
regierungsgelenkten Medien auf Imamoglu. Das macht den Sieg der
Opposition in Istanbul umso wertvoller: Er beweist, dass die
hierzulande oft schon abgeschriebene türkische Demokratie trotz aller
Beschädigungen aus den vergangenen Jahren funktioniert, dass die
Zivilgesellschaft in der Türkei quicklebendig und wehrhaft ist. Das
ist eine gute Nachricht, nicht nur für die Türkei.
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