Mittelbayerische Zeitung: Falsche Betroffenheiten / Von Jana Wolf
Geschrieben am 27-08-2019 |
Regensburg (ots) - Kurz vor den Landtagswahlen in Brandenburg und
Sachsen am kommenden Sonntag ist die Betroffenheit groß. Prominente
Köpfe aus Politik und Wirtschaft sorgen sich um den Wahlausgang und
stellen betreten fest, dass Ostdeutschland viel zu lange
vernachlässigt wurde und die Wirtschaftskraft in Ost und West auch 30
Jahre nach der Wende weit auseinanderklafft. So hat sich nun
Industriepräsident Dieter Kempf zu Wort gemeldet und befunden: "Wir
haben den Menschen in Ostdeutschland viel zu wenig zugehört und auch
zu wenig hingeguckt." Jetzt, da die Politik um Stimmen und die
Wirtschaft um Stabilität bangt, verwundern solche reumütigen
Äußerungen kaum. Doch sie verraten mehr von der Sorge um eigene - in
Kempfs Fall ökonomische - Einbußen, als von sozialem Engagement und
einem ernsthaften Willen, die Verhältnisse im Osten dem Osten zuliebe
zu verändern. Und vor allem greifen sie in ihrer Analyse zu kurz.
Dabei trifft ein Teil von Kempfs jüngsten Ausführungen durchaus zu.
Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie hat recht,
wenn er sagt, dass der Internetzugang, die Dorfkneipe, der Bäcker
oder der Arzt in Teilen Ostdeutschlands, besonders in den ländlichen
Regionen, vernachlässigt wurden. Doch diese längst bekannten
Versäumnisse gibt es nicht nur im Osten. Strukturschwache Gegenden
finden sich im Ruhrgebiet, im Saarland und selbst im wirtschaftlich
starken Bayern. Doch mit dem Fokus auf diese Gegenden lässt sich
aktuell nicht Politik in eigener Sache machen - schließlich wird dort
jetzt nicht gewählt. Worüber Kempf und Co. dieser Tage dagegen lieber
nicht sprechen, ist das viel grundlegendere Problem eines
Stadt-Land-Gefälles, das das ganze Land überzieht. Der Internetzugang
ist nur dort stabil und schnell, wo die Wirtschaft angesiedelt ist
und die leistungsfähigen Teile der Gesellschaft sitzen, also um die
urbanen Zentren. Der Bäcker oder Metzger vor Ort wird verdrängt von
effizienteren Discounter-Ketten und Großanbietern. Landkrankenhäuser
und öffentlicher Nahverkehr werden nur dort erhalten und ausgebaut,
wo sie am Ende noch Rendite abwerfen. Die Dorfkneipe und das Gasthaus
um die Ecke machen am Ende dicht , weil die Gäste ausbleiben: Zu
viele sind in die Städte abgezogen. Es gibt einen Zusammenhang
zwischen all diesen Bereichen: Er liegt in der Ökonomisierung all
unserer Lebens- und Gesellschaftsbereiche. Diese Entwicklung wurde
über viele Jahre hinweg von Politik und Wirtschaft vorangetrieben -
nicht selten gerade von denjenigen, die nun betroffen auf den
ländlichen Osten blicken und sich wundern, dass junge Menschen in
Scharen abgewandert sind. Wir sind weit davon entfernt, diesen Trend
kritisch zu überdenken und einen Gang zurückzuschalten. So sagte etwa
der Chef des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, Reint
Gropp, es müsse mehr Geld in ostdeutsche Städte fließen, um die
Ost-Wirtschaft anzukurbeln und auf West-Niveau anzuheben. So zu tun,
als wäre mehr wirtschaftlicher Aufschwung die Lösung aller Probleme,
verkennt die Tatsache, dass viele Menschen gerade von dieser
Durch-Ökonomisierung abgeschreckt sind. Zuhören und Hingucken, wie
das Herr Kempf nun tun will, ist etwas anderes, als den
Wirtschaftsmotor anzufeuern. Die Entscheidung an der Wahlurne wird
längst nicht nur durch Wirtschaftslage und materielle Bedingungen
bestimmt. Politische, soziale, historische Faktoren spielen am
Wahltag eine Rolle - und das Gefühl, von den politischen und
wirtschaftlichen Entscheidungsträgern ernstgenommen zu werden.
Kurzfristige Betroffenheitsbekundungen vermitteln dieses Gefühl
sicher nicht. Die Defizite liegen hier nicht allein im Osten, sondern
auch bei jenen, die im Westen von oben herab über ihn urteilen.
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Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
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