Hinfahren und hinsehen / Es kostet ein hohes Maß an Überwindung, in Auschwitz genau hinzuschauen. Aber das darf nicht als Ausrede dienen. / Von Ulrich Krökel
Geschrieben am 22-01-2020 |
Regensburg (ots) - Vorweg sei ausnahmsweise ein persönliches Bekenntnis erlaubt.
Als Polen-Korrespondent habe ich mich viele Jahre lang vor einem Besuch in der
KZ-Gedenkstätte Auschwitz "gedrückt". Das geschah eher unbewusst als bewusst.
Erst 2019 schaffte ich es dann nach Auschwitz. Anlass war der erste Besuch von
Angela Merkel in der KZ-Gedenkstätte. Auch die Kanzlerin hatte also 14 Jahre im
Amt für diese Reise gebraucht! Und es geht den meisten Deutschen so. Von den 2,3
Millionen Besuchern des ehemaligen Vernichtungslagers kamen 2019 nicht einmal
100 000 aus der Bundesrepublik. Briten, Italiener, Spanier: Sie alle reisen
öfter an und sehen hin. Israelis und Polen sowieso. Was steckt dahinter:
Verdrängung, Scham, Ignoranz? Schon vor einem halben Jahrhundert haben die
Psychologen Margarete und Alexander Mitscherlich mit Blick auf den Holocaust
über die deutsche "Unfähigkeit zu trauern" geschrieben. Allerdings ist seither
viel an Aufarbeitung passiert. In Büchern und Filmen, in der Kunst und in den
Schulen, in politischen Reden und in Entschädigungstaten. In einigen Prozessen
konnte spätes Recht gesprochen werden. Im Herzen Berlins erinnert ein Mahnmal an
die deutsche Schuld und das unsagbare Leid der Opfer. Viele Menschen in der
Bundesrepublik haben inzwischen durchaus eine Fähigkeit zu trauern entwickelt,
und das ist keine Kleinigkeit. Allerdings hat man uns Deutsche vielleicht ein
paar Mal zu oft dafür gelobt. 75 Jahre nach Kriegsende neigen wir dazu, uns viel
darauf einzubilden, dass wir uns dem Grauen der eigenen Geschichte gestellt
haben, und so drohen wir wieder in den Verdrängungsmodus zu verfallen.
Verständlich ist das. Als verspäteter Auschwitz-Reisender nehme ich selbst für
mich in Anspruch, dass es auch heute noch (oder womöglich mehr denn je) ein
hohes Maß an Überwindung kostet, als Deutscher genau hinzusehen. Aber das darf
nicht als Ausrede dienen. Die Gefahr nämlich ist groß, dass wir "diese ganze
Sache" am Ende doch auf sich beruhen lassen, frei nach der Devise: Wir haben in
Deutschland so oft betont, dass es niemals einen Schlussstrich geben darf, dass
er sich nun wie von selbst zieht. Das Bitterste aber ist, dass der zeitliche
Abstand den Hasserfüllten Auftrieb gibt und auch jenen professionellen
Schlussstrichziehern, die alles zu einem "Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher
Geschichte" erklären wollen. Namentlich dies: Mindestens 1,1 Millionen Menschen
starben zwischen 1940 und 1945 allein im KZ Auschwitz-Birkenau, meist an
qualvoller innerer Erstickung, verursacht durch das Schädlingsvernichtungsmittel
Zyklon B, während der "schale, widerliche Geruch verbrannter Leichen das Lager
zudeckte wie ein Teppich" (Zeitzeugin Olga Lengyel). Heute debattieren wir in
Deutschland oft mit hohem Erregungspotenzial über alltäglichen Rassismus. Die
einen hetzen gegen "Messermänner und Kopftuchmädchen" und rufen "Ausländer
raus". Die anderen twittern sofort "#Nazis raus" und schwingen die vielzitierte
"Auschwitz-Keule". Tatsächlich sollten auch die Gutwilligen ihre Wortwahl lieber
einmal öfter überprüfen. Im Gedenken an die NS-Opfer ist nicht immer nur der
blanke Hass unerträglich. Auch manche wohlmeinende Formulierung zeugt von einem
erschreckenden Unernst. Meine These lautet: Die gegenwärtige Debatte wäre eine
vollkommen andere, wenn jeder und jede Deutsche bereits einmal die
KZ-Gedenkstätte in Auschwitz besucht hätte. Deshalb sei mir zum Abschluss
ausnahmsweise ein Appell erlaubt: Fahren Sie hin und sehen Sie hin. Denn zur
Wahrheit gehört auch, dass der Massenmord in Auschwitz nicht erst im KZ begann,
sondern in den Köpfen von Menschen. Von Deutschen.
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