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Der vergiftete Sieg Potsdamer Militärhistoriker Prof. Michael Epkenhans:Die Reichseinigung vor 150 Jahren im Krieg gegen Frankreich verlieh den deutschen Militärs einen überhöhten Status

Geschrieben am 26-10-2020

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Wer ist schuld am Deutsch-Französischen Krieg vor 150 Jahren - Napoleon III., weil ein Sieg den Glanz seines bonapartistischen Regimes aufpolieren sollte; oder Bismarck, der die Chance erkannte, mit Blut und Eisen den deutschen Nationalstaat zu schmieden? Prof. Michael Epkenhans: Sowohl der französische Kaiser als auch Bismarck waren klassische Machtpolitiker. Als solche versuchten sie, Frankreichs beziehungsweise Preußens Stellung zu stärken. Das Dilemma war, dass der populistische Napoleon III. zu hoch gepokert hatte, indem er versuchte, Preußen zu demütigen. Damit hatte er sein Blatt überreizt, was Bismarck durchaus entgegen kam. Der preußische Ministerpräsident scheute Konflikte nicht, wusste zudem, dass ein Krieg mit Frankreich Preußens Stellung im Ringen der Mächte stärken könnte.

War der Streit um die spanische Thronfolge wirklich geeignet, in Paris Einkreisungsängste zu schüren? Der Thronfolge-Streit ist selbstverständlich der wichtigste Auslöser des Krieges gewesen. Seit 1866/67 hatten die Franzosen das Gefühl, dass sie gegenüber Preußen ins Hintertreffen kämen. Der Ruf "Rache für Sadowa" - also für die Niederlage Österreichs in der Entscheidungsschlacht gegen Preußen, die Frankreichs Vormachtstellung auf dem Kontinent bedrohte - war sowohl in Pariser Salons als auch in der Abgeordentenkammer immer wieder laut geworden. Nicht ganz unbegründet wurden die Erinnerungen an Karl V. wieder wach, denn mit einem Hohenzollern auf dem Thron wäre Frankreich eingekreist gewesen. Das hätte die französische Manövrierfähigkeit in europäischen Konflikten stark einschränken können. Es war daher ein Leichtes für Napoleon III., nationale Leidenschaften in der Bevölkerung anzustacheln, die in die Forderung mündeten, Preußen nun Grenzen aufzuzeigen.

Könnte die berühmte "Emser Depesche" in Zeiten von Facebook noch eine derartige Empörung auslösen? Heutzutage würde die Emser Depesche viel schneller in Paris ankommen als 1870, könnte also genutzt werden, um Kriegsbegeisterung zu schüren. Damals war die französische Entscheidung für den Krieg bereits gefallen, bevor der Inhalt der Depesche in Paris bekannt wurde. [Die "Emser Depesche" war ein diplomatischer Trick Bismarcks. Er hatte ein an sich harmloses Telegram des preußischen Königs verschärft, in dem dieser berichtete, wie er die französische Forderung abgewiesen habe, für alle Zeiten einen Hohenzollern auf Spaniens Thron auszuschließen. In Bismarcks Version liest es sich wie eine Ohrfeige für Napoleon III.; Anm. d. Red.]

Im Bürgertum wuchs die Kriegsbegeisterung schlagartig, sowohl in Frankreich als auch in den deutschen Staaten. Wie sah es bei den Arbeitern aus? Die Arbeiter haben den Krieg eher mit gemischten Gefühlen betrachtet. Gleichwohl gab es auch unter Arbeitern national Gesinnte, die in Frankreich den Erbfeind sahen, das zeigen die ersten Reaktionen in Arbeiterzeitungen. Die Trennlinie verlief weniger zwischen Klassen als zwischen Regionen. So waren in Lüneburg als ehemaligem Welfengebiet, das erst seit 1866 zu Preußen gehörte, die Reaktionen anders, wie die Berichte des Preußischen Oberpräsidenten in Hannover zeigen. Hier gab es kaum Enthusiasmus, für Preußen zu kämpfen. Viele versuchten, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Ehemalige welfische Offiziere reisten gar nach Frankreich, um auf französischer Seite zu kämpfen.

Diese Frontenwechsler kämpften auf der Seite mit dem besseren Gewehr, der vermeintlich stärksten Armee und dem besten Eisenbahnnetz. Wieso war Frankreich von Anfang an in der Defensive? Paris hatte den Krieg schlecht vorbereitet, es gab - anders als auf deutscher Seite - keinen Kriegsplan. Der Aufmarsch verlief daher chaotisch und viel zu langsam. Zudem hing Paris zu lange der Hoffnung nach, dass die Verlierer von 1864 und 1866 - also Dänemark und Österreich - sich auf die französische Seite schlagen würden. Genauso fadenscheinig war die Erwartung, die anti-preußischen Ressentiments im Süden würden so stark sein, dass Frankreich als Retter der Süddeutschen wirken könnte. Tatsächlich hat Paris die Wucht des nationalen Enthusiasmus in den deutschen Staaten unterschätzt, gerade weil Frankreich als Aggressor galt.

Gab es im Grund zwei Kriege? Wobei der erste mit der Schlacht von Sedan und der Gefangennahme des Kaisers endete. In der Tat haben wir 1870 das Phänomen zweier Kriege. Generalstabschef Helmuth von Moltke hatte gehofft, Frankreich so vernichtend schlagen zu können, dass es um Frieden bitten würde. Das war nicht der Fall, auch weil Frankreich eine zutiefst gespaltene Nation war. Die Gefangennahme Napoleons III. gab in Paris dessen Gegnern Auftrieb, sie riefen die Republik aus und das Volk in einer "levée en masse" zu den Waffen. Sie wollten ihr Land und die aus ihrer Sicht überlegene französische Zivilisation verteidigen.

Nahm dieser Volkskrieg die modernen Partisanenkriege vorweg? Oder sogar die "totalen" Weltkriege? Die "levée en masse" wurde schon 1792 ausgerufen. Dabei kämpfte jeder Staatsbürger für das Land, in dem er geboren wurde. Preußen hat es 1813 in den Befreiungskriegen gegen Napoleon nicht anders gemacht, denkt man etwa an die Lüneburgerin Eleonore Prohaska, die als "Heldenmädchen" der Lützower Jäger zur Waffe griff. Im 19. Jahrhundert wandelte sich der klassische Kabinettskrieg zum Volkskrieg. Parallelen zwischen den "Franktireurs" genannten französischen Freikorps und späteren Partisanen gab es durchaus. Die Bürger haben sich eben nicht mehr als machtlose Untertanen eines Königs verstanden, sondern als Bürger, die für ihren Staat einstanden.

Drängte Bismarck auf einen Beschuss von Paris, um den internen Machtkampf mit dem Generalstab zugunsten der Politik zu entscheiden? Bismarck ging es darum, den Krieg so schnell wie möglich zu entscheiden. Ihn plagte die Sorge, dass andere Mächte intervenieren und ihn so zu Kompromissen zwingen könnten. Zu Kriegsbeginn standen England und Russland den Preußen sehr wohlwollend gegenüber, aber es war unklar, ob das so bliebe angesichts der hungernden Pariser und der gegenüber Zivilisten rigide durchgreifenden Preußen. Queen Victoria schrieb kurz vor Weihnachten an Wilhelm I. einen Brief, in dem sie ihn davor warnte, den Krieg angesichts des allgemeinen Elends weiterzutreiben. Deshalb drängte Bismarck auf die Beschießung, während Moltke Paris lieber ausgehungert hätte - so wie Metz. Zugleich ging es Bismarck aber immer darum, die "Halbgötter im Generalstab", wie er sie spöttisch nannte, in die Schranken zu weisen. Weil er zutiefst davon überzeugt war, dass nur Politiker entscheiden sollten, wie der Krieg geführt wird. Alles andere würde nur zu Komplikationen führen.

Stichwort Komplikationen: War die Kaiser-Proklamation im Spiegelsaal von Versailles als die Demütigung gedacht gewesen, als die sie empfunden wurde? Nein, die Kaiser-Proklamation war eher das Ergebnis von Zufällen. Der Krieg dauerte ja noch an. Es gab Entsatzversuche französischer Reservearmeen an der Loire und im Südosten. Und Wilhelm I. als klassischer preußischer Militär-König war in dieser Situation einfach nicht bereit, nach Berlin zu reisen, um sich dort die Kaiser-Krone aufsetzen zu lassen. Deshalb fand die Proklamation im preußischen Hauptquartier statt. Zwar gab es damals keine Intention, die Franzosen zu demütigen. Ein kluger Politiker hätte allerdings vorausgesehen, dass dies genauso empfunden würde, gerade nach der zuvor geforderten Annexion Elsass-Lothringens.

Welche Folgen hatte die kriegerisch erfolgte Reichseinigung in Deutschland? Der Nimbus des Sieges stärkte die Militärführung und verlieh ihr eine Stellung, wie sie sie in anderen Staaten nicht hatte. Bismarck war es noch gelungen, die Militärs im Zaum zu halten. Auch, weil Moltke im Konfliktfall bereit war, zurückzuziehen. Aber dieser Balance-Akt misslang mit anderen handelnden Personen. 1887 versuchten Militärs, dem todgeweihten Wilhelm I. einen Krieg gegen Russland abzuringen. Das konnte Bismarck mit Mühe verhindern. Aber in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde deutlich, wie schwer es der jeweilige Kanzler hatte, sich gegen die Kriegstreibereien der Militärs durchzusetzen.

Feierten alle Deutschen die Jahrestage des Sieges von Sedan? Einige Gruppen taten sich zunächst sehr schwer mit der Reichsgründung. Die Katholiken waren zur Minderheit geworden und hatten ihre alte Schutzmacht Österreich verloren. Zudem schlitterten sie in den Kulturkampf, der sie so traumatisierte, dass er auch noch einem Adenauer in den frühen Jahren der Bundesrepublik sehr präsent war. Die Sozialdemokraten, die August Bebel folgten, waren nicht bereit, die Annexion Elsass-Lothringens mitzutragen. So wurden sie wie die Katholiken schnell als "Reichsfeinde" abgestempelt. Und schließlich die nationalen Minderheiten, etwa die Welfen-Anhänger in Niedersachsen oder die Anhänger der Bayerischen Patriotenpartei.

Heute stehen an der Spitze des Staates Vertreter jener gesellschaftlichen Gruppen, die vor 150 Jahren als Reichsfeinde galten - Katholiken und Sozialdemokraten. Wo gibt es dennoch Traditionslinien bis in die heutige Zeit? Die wichtigste Traditionslinie ist die Bundesrepublik als solche. Trotz anderer Grenzen gäbe es die heutige Bundesrepublik nicht, wenn es nicht 1871 zur Reichsgründung gekommen wäre. Der heutige Föderalismus ist ebenso ein Erbe von 1871, weil das Reich von Anfang an bundesstaatlich angelegt war. Was heute in der Schulpolitik oder bei der Corona-Bekämpfung oft beklagt wird, ist die Folge dessen, dass sich die Reichsgründer darüber im Klaren waren, dass das Reich nur als Bundesstaat funktionieren würde - nicht als zentralisierter Einheitsstaat. Blickt man ein paar Jahre weiter, erkennt man, dass auch unser heutiger Sozialstaat und unser Parteiensystem im Kaiserreich wurzeln.

Leitender Wissenschaftler in Potsdam Führender Militärhistoriker Prof. Michael Epkenhans ist Leitender Wissenschaftler am Zen-trum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Er gilt als einer der führenden Marinehistoriker in Deutschland. Der in Bardowick lebende Forscher hat nun zwei Bücher zu den 150. Jahrestagen vorgelegt, die trotz geraffter Form faktensatt sind und zudem auch dank einer hervorragenden Ausstattung mit Bildern und Karten mit Genuss zu lesen sind:

- Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, Reclam, 160 Seiten, 14,95 Euro - Die Reichsgründung 1870/71, Beck Wissen, 128 Seiten, 9,95 Euro.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Weiteres Material: http://presseportal.de/pm/65442/4744776
OTS: Landeszeitung Lüneburg

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