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"60 Jahre Soziale Marktwirtschaft" / Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Wirtschafts- und Währungsreform

Geschrieben am 12-06-2008

Köln (ots) - Rede von Prof. Dr. Hans Tietmeyer, ehemaliger
Präsident der Deutschen Bundesbank, Vorsitzender des Kuratoriums der
Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), am 12. Juni 2008,
10:30 Uhr, in Berlin, Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie

Die Währungsreform am 20. Juni 1948 und die unmittelbar
anschließende weitgehende Freigabe der Preisbildung durch die einsame
Entscheidung von Ludwig Erhard markieren zweifellos ein historisches
Datum. Damals begann in Westdeutschland der Weg in die Soziale
Marktwirtschaft. Für Ludwig Erhard, der nach seiner nicht gerade
ehrenvollen Ablösung als bayerischer Wirtschaftsminister (ein Vorwurf
lautete z.B. "Einstellung nicht-bayerischer Mitarbeiter") zum
Direktor der "Verwaltung für Wirtschaft" des Vereinigten
Wirtschaftsgebietes in Frankfurt gewählt worden war, gehörte eine
neue und stabile Währung zu den unerlässlichen Grundlagen der von ihm
angestrebten neuen Wirtschaftsordnung.

Zwar haben damals auch deutsche Experten mit dem so genannten
Homburger Plan und im Konklave von Rothwesten wichtige Vorarbeit
geleistet, doch war die Vorbereitung und Einführung der DM primär das
Werk der amerikanischen Besatzung. Dass aus dem "Besatzungskind"
schon bald ein "Weltstar" wurde, war allerdings 1948 noch nicht
voraussehbar. Tragisch war jedoch, dass die Einführung der DM de
facto damals auch die schon zuvor eingeleitete Teilung Deutschlands
in West und Ost verfestigt hat, wie ja auch die folgende
Berlin-Blockade und die spätere Einführung der Ost-Mark zeigte. Erst
1990 konnte diese verhängnisvolle Trennung durch die deutsche
Wiedervereinigung überwunden werden.

Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg im Westen war aber
die mutige persönliche Entscheidung von Ludwig Erhard, zusammen mit
der Einführung der neuen Währung auch den Großteil der Preise
freizugeben und damit zugleich die bürokratische Administration
weitgehend aufzuheben.

Erst wenige Tage zuvor hatte der Frankfurter Wirtschaftsrat als
damaliges Parlament des vereinigen Wirtschaftsgebietes nach
intensiver und kontroverser Diskussion mit knapper Mehrheit das so
genannte Leitsätze-Gesetz beschlossen, in dem es u.a. hieß: "Der
Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug
zu geben." Bei der Zustimmung ging die knappe Mehrheit aber davon
aus, dass dieser Leitsatz erst allmählich umgesetzt werde. Erhard
zögerte jedoch nicht. Bereits bevor das neue Gesetz von den
Besatzungsbehörden genehmigt war, nutzte er es großzügig - teilweise
auch gegen den Rat seiner Mitarbeiter, wie ich später erfahren habe.
Sofort nach der Währungsreform gab er den überwiegenden Teil der
Preise frei und öffnete damit den Weg in die Marktwirtschaft. Erst in
einem Gespräch mit dem damaligen US-Militärgouverneur Lucius D. Clay
gelang es ihm, den Widerstand der Besatzungsbehörden zu überwinden
und zumindest eine vorläufige Duldung zu erreichen.

Mit dieser mutigen Entscheidung ist Ludwig Erhard im Juni 1948
zweifellos der erste, zugleich aber auch entscheidende Durchbruch zur
Marktwirtschaft gelungen. Ein Großteil der Zwangswirtschaft wurde
kurzfristig abgeschafft, und die Menschen begannen die ersten Erfolge
schon bald zu spüren.

Schon nach wenigen Monaten kam es allerdings auch zu Spannungen
und Problemen. Die Preise begannen stark zu steigen, die
Arbeitslosigkeit nahm zu, und das zunächst starke Wachstum wurde
wieder schwächer. Die Folge waren heftige politische Kontroversen,
Streiks und Demonstrationen. Während der Korea-Krise drängten selbst
die amerikanischen Besatzungsbehörden zunächst wieder auf mehr
Regulierungen. Ludwig Erhard, seit 1949 Bundeswirtschaftsminister in
Bonn, hielt jedoch am eingeschlagenen Kurs fest. Und die Realität gab
ihm zunehmend recht.

Zu Beginn der 50er Jahre setzte sich die positive Entwicklung
immer stärker durch. Das Sozialprodukt wuchs zunehmend kräftiger, es
entstanden immer mehr Arbeitsplätze und der von Ludwig Erhard
versprochene "Wohlstand für alle" wurde deutlicher. Der Alfred
Müller-Armack stammende Begriff "Soziale Marktwirtschaft" wurde immer
mehr zum Markenzeichen für den erfolgreichen Neubeginn, auch wenn der
konkrete Inhalt des Konzepts sowohl in der Öffentlichkeit als auch in
der Politik - damals wie heute - oft recht unterschiedlich
interpretiert und verstanden wurde und wird.

Ich kann den langen Weg der Konkretisierung, der ja auch zu
manchen Fehlentwicklungen führte, jetzt nicht nachzeichnen. Ich will
jedoch einige, aus meiner Sicht besonders wichtige Weichenstellungen
kurz erwähnen.

Im Währungsbereich ist die Erhaltung der Stabilität des Geldes
eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren der Marktwirtschaft
und das soziale Miteinander der Menschen.

Die von den Alliierten im März 1948 in Frankfurt gegründete
Zentralbank, die Bank deutscher Länder, war zwar von den neuen
politischen Bundesinstitutionen in Bonn unabhängig; sie unterstand
jedoch formal den Besatzungsbehörden. Als das Besatzungsregime 1951
aufgegeben wurde, stellte sich die Unabhängigkeitsfrage somit neu,
zumal das Grundgesetz ohnedies die Schaffung einer Deutschen
Bundesbank vorsah.

Bundesfinanzminister Fritz Schäffer schlug zunächst eine
politische Kontrolle durch einen Ausschuss für währungs- und
wirtschaftspolitische Entscheidungen vor und fand dafür auch die
Unterstützung von Konrad Adenauer. Ludwig Erhard war jedoch von
Anfang an dagegen - und er setzte sich in den politischen
Verhandlungen letztlich auch durch. Das neue Bundesbankgesetz, das
nicht nur für die Deutsche Bundesbank die Unabhängigkeit sicherte,
sondern später auch zum Maßstab für das Statut der EZB wurde, konnte
allerdings erst 1957 verabschiedet werden.

Neben dem Unabhängigkeitsstatus spielt aber für die Geldpolitik
auch die primäre Zielsetzung eine zentrale Rolle -
Preisniveaustabilität oder Wechselkursstabilität? Diese Frage stellte
sich praktisch nicht, solange das Bretton-Woods-System der festen
Wechselkurse noch funktionierte. Als die DM zunehmend stärker und
insbesondere Dollar und Sterling schwächer wurden, erkannte Ludwig
Erhard schon früh die bei fixen Wechselkursen daraus resultierenden
Gefahren für die interne Preisstabilität. Er setzte 1961 (damals noch
gegen die Mehrheitsmeinung des Zentralbankrats sowie der deutschen
Banken- und Industriewelt) die erste Aufwertung der DM durch, eine
Politik, die später auch von Karl Schiller trotz interner Widerstände
fortgesetzt wurde.

Dieser Streit um die Dominanz der internen Preisniveau- oder
Wechselkursstabilität ist zwar auch im Maastricht-Vertrag zurecht
zugunsten der internen Preisstabilität entschieden worden; in
Euro-Ländern selbst gibt es diesen Streit jedoch bis heute, obwohl
der größere Währungsraum des Euro den Konflikt zumindest teilweise
reduziert haben sollte.

Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft spielte aber vor allem
eine große Rolle für den Auf- und Ausbau der konkreten Wirtschafts-
und Sozialordnung der Bundesrepublik. Von besonderer Bedeutung für
die Wettbewerbsordnung war und ist das nach langen politischen
Kontroversen erst 1958 in Kraft getretene Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen mit einem weitgehenden Kartellverbot sowie
der erst später ausgebauten Missbrauchsaufsicht. Dieses Gesetz war
für Ludwig Erhard ein Herzensanliegen. Er sah darin gleichsam das
Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft und zugleich eine Absage
sowohl an den traditionellen deutschen Korporatismus als auch an den
ungehemmten Kapitalismus.

Übrigens gehen auch die Wettbewerbsregeln im EWG-Vertrag von 1957
und die Öffnung der Außengrenzen zum großen Teil auf deutsche
Initiative zurück. Zu einer heftige Auseinandersetzung über die
Makropolitik in der EWG kam es jedoch, als der zuständige Kommissar
Marjolin Anfang der 60er Jahre mit Unterstützung von Präsident
Hallstein die Mitgliedsländer aufforderte, ein System der
Planification nach französischem Muster einzuführen. Ludwig Erhard
lehnte das als Widerspruch zur marktwirtschaftlichen Ordnung heftig
ab.

Diese Thematik kam später - nach Erhards Rücktritt - auch indirekt
mit dem Globalsteuerungskonzept von Karl Schiller wieder auf den
Tisch. Aber Karl Schiller selbst hat schon nach relativ kurzer Zeit
die Grenzen und politischen Gefahren dieses Konzeptes erkannt und
sich nach seinem Ausscheiden 1972 ja auch bald mit Ludwig Erhard
versöhnt. Und nach dem Koalitionswechsel von 1982 spielte ohnehin das
primär angebotsorientierte Konzept für die praktische Wirtschafts-
und Finanzpolitik wieder eine größere Rolle.

Über das "Soziale" in dem Gesamtkonzept gab es allerdings schon
seit den 50er Jahren immer viel Streit. Während für Ludwig Erhard der
Sozialgehalt vor allem mit der dauerhaft funktionierenden und auf
Wettbewerb basierenden Marktwirtschaft verwirklicht war, begann und
beginnt für viele Sozialpolitiker das "Soziale" zumeist erst mit den
sozialen Sicherungssystemen, der fiskalischen Umverteilung sowie mit
dem Arbeits-, Tarif- und Mitbestimmungsrecht.

Die Erhard'sche Grundposition bedeutet nicht, dass er nicht auch
eine angemessene soziale Absicherung der Lebensrisiken, eine gewisse
Umverteilung und ein sinnvolles Arbeits- und Mitbestimmungsrecht für
richtig und notwendig hielt. Schon bei der Rentenreform 1957 hat er
sich jedoch gegen die aus seiner Sicht zu großzügigen und auf Dauer
nicht finanzierbaren Regelungen der dynamischen Rente gewandt -
leider erfolglos.

Der in den 60ern, 70ern und 80ern folgende weitere Ausbau des
deutschen Wohlfahrtsstaates hat an vielen Stellen auch später zu
Weiterentwicklungen geführt, die nicht sei-nem Konzept von Freiheit,
Eigenverantwortung und sozialer Sicherheit entsprachen. Manche
Reformen der letzten Jahre sind wohl auch nach Erhards Konzept in die
richtige Richtung gegangen und haben - trotz teilweise
problematischer Kompromisse - inzwischen wichtige Korrekturen
eingeleitet.

Die deutsche Wirtschaft wächst wieder deutlich, die Zahl der
Beschäftigten nimmt zu, und der Wohlstand der Gesellschaft steigt,
auch wenn viele daran nur sehr unterschiedlich teilnehmen. Zugleich
aber wachsen auch die Herausforderungen der permanenten Innovation,
des globalen Wettbewerbs und der Generationenstruktur weiter.
Deswegen muss der Reformkurs auch weitergehen, und zwar in Richtung
auf mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung bei Einhaltung der
fiskalischen Disziplin.

Derzeit hat offensichtlich das Thema "soziale Gerechtigkeit"
wieder Hochkonjunktur. Dass sich eine Gesellschaft intensiv mit dem
Thema Gerechtigkeit auseinandersetzt und dabei auch Exzesse
attackiert, ist gewiss nicht zu kritisieren. Soziale Gerechtigkeit
darf jedoch nicht in erster Linie eine Frage der guten Absichten
sein. Jeder Versuch, der die Leistungskraft der Wirtschaft
überfordert, ist zum Scheitern verurteilt. Man sollte sich immer klar
vor Augen halten: Die richtig verstandene Soziale Marktwirtschaft
verdient das Prädikat "sozial" vor allem deshalb, weil sie eine
nachhaltige leistungsfähige Wirtschaftsordnung ist und weil sie
Chancen schafft. Soziale Marktwirtschaft ist nicht primär ein
Umverteilungs-Konzept. Sie ist in erster Linie ein Ordnungskonzept
für eine dauerhaft funktionsfähige Marktwirtschaft, die auf
individueller Freiheit, Wettbewerb und Eigenverantwortung aufbaut.

Ich bin mir bewusst: Das aktuelle Umfeld macht politische
Reformen nicht leicht. Aber eine hinreichend konsistente und
längerfristig angelegte Reformpolitik kann auch neues Vertrauen
schaffen. Ich will auf die verschiedenen Reformfelder nicht eingehen
- mit einer Ausnahme.

Auch wenn es inzwischen deutliche Fortschritte auf dem
Arbeitsmarkt gibt, gilt bei immer noch 3 Millionen Arbeitslosen
unverändert das Motto: Sozial ist vor allem, was Beschäftigung
schafft. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen so gestaltet werden,
dass möglichst viele Menschen eine Chance für Beschäftigung und damit
für eigene Leistung sowie beruflichen und sozialen Aufstieg erhalten.

Für dieses Ziel wirbt die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
derzeit intensiv mit der Kampagne "Einstieg in die Arbeit". Hierbei
geht es um die Vermittlung von Fakten und Schicksalen von
Betroffenen, die durch persönliches Engagement, aber auch durch
flexible Möglichkeiten wie Zeitarbeit zu neuen Einstiegs- und
Aufstiegschancen gekommen sind. Gleichzeitig warnen wir davor, dass
neue Hürden - wie generelle Mindestlöhne - aufgestellt werden.

Die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft werden in
Zukunft gewiss nicht kleiner. Der weltweite Wettbewerb wird sich
weiter verschärfen. Die Konjunktur wird schwieriger und der
Inflationsdruck stärker. Damit steigt auch der Druck, die
strukturellen Probleme in Deutschland weiter und nachhaltig zu
korrigieren. Vor diesem Hintergrund ist eine Rückbesinnung auf die
Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft umso wichtiger, gerade
auch am 60. Jahrestag ihres Beginns. Gewiss, die Bedingungen sind
heute anders als 1948 und werden sich weiter verändern. Aber Ludwig
Erhards Erbe ist ein bleibender Auftrag für die Zukunft.

Originaltext: Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/39474
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_39474.rss2

Pressekontakt:
INSM: Dieter Rath, Tel. (0221) 4981-400; (0171) 5488666


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