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Landeszeitung Lüneburg: ,,Washingtons gravierendster Fehler" -- Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Gerke zur Finanz- und Wirtschaftskrise

Geschrieben am 23-12-2008

Lüneburg (ots) - Die Große Koalition streitet derzeit über den
Inhalt des zweiten Konjunkturpaketes, mit dem die schlimmsten
Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise abgefedert werden. Eine
Krise, die in den USA entstand und durch einen ,,gravierenden Fehler"
noch vergrößert wurde, sagte der Bankenexperte Prof. Dr. Wolfgang
Gerke im Gespräch mit unserer Zeitung. Denn, so Gerke, die USA ließen
die angeschlagene Traditionsbank Lehman Brothers in die Insolvenz
rutschen.

Herr Prof. Gerke, Sie gehörten zu den ersten, die im Zuge der
US-Immobilienkrise vor einem Flächenbrand gewarnt hatten. Vor einem
Jahr widersprachen Sie der Ansicht des Deutsche-Bank-Chefs Josef
Ackermann, dass die Finanzkrise bald ausgestanden sei und warnten vor
einem schweren Jahr 2008. Hat Sie nun das extreme Ausmaß der Krise im
Nachhinein überrascht?
Prof. Dr. Wolfgang Gerke: Mich hat nicht überrascht, dass die Krise
auf die Realwirtschaft übergegriffen hat, denn genau das war meine
Befürchtung. Anders als Finanzkrisen wie etwa 1987 ist diese Krise
aber von so fundamentaler Natur, dass die gesamte Wirtschaft weltweit
betroffen ist. Dieses Ausmaß hatte ich nicht erwartet. Ich glaube,
dass ein ganz gravierender Fehler der Amerikaner für die Ausweitung
der Krise verantwortlich ist: Sie haben Lehman Brothers in Insolvenz
geraten lassen in der Annahme, auf diese Art und Weise könnte man
Europa und Asien an der Finanzierung der Rettungsaktionen für
US-Finanzinstitutionen beteiligen. Schließlich hatte Lehman Brothers
viele Verbindlichkeiten außerhalb der USA. Aber die Folgen des
Zusammenbruchs von Lehman Brothers für die Weltwirtschaft sind so
gravierend, das Vertrauen ist so grundlegend verloren gegangen, dass
auch die Amerikaner viel mehr Geld für die Banken-Rettungsschirme zur
Verfügung stellen müssen als sonst nötig gewesen wäre.

Kann man insofern von einem Versuch des Exports der Schulden
seitens der USA sprechen?
Gerke: Ja, dieser Versuch wurde schon vorher gemacht, das war der
Auslöser der Krise. Wir schimpfen zwar nicht zu Unrecht über die Gier
der Banken. Aber die Basis der Finanzkrise legte die US-Regierung mit
ihrer gewaltigen Verschuldungspolitik und insbesondere die
US-Notenbank mit ihrer Zinspolitik. Über einen längeren Zeitraum
lagen die Zinsen deutlich unterhalb der Inflationsrate. Dies
animierte die US-Investmentbanker, mit dem billigen Geld ein
Schneeballsys"tem zu installieren. Das Geld wurde in Immobilien
investiert, die man verbriefte und dann das neu gewonnene Geld wieder
kreditwürdigen Immobiliennehmern zuführte.

Geld fast zum Nulltarif gab es 2002/2003, dies gilt als
Mitverursacher der US-Immobilienkrise. Nun bietet die US-Notenbank
wieder Geld zum Nulltarif an. Steht zu befürchten, dass das gleiche
Spiel wieder von vorne beginnt?
Gerke: Ja, das ist zu befürchten. Ich glaube, dass das Spiel sogar in
kürzeren Abständen beginnen wird. Einerseits ist das eine frohe
Botschaft, denn es bedeutet ja auch, das erst einmal wieder eine
Euphorie kommen wird. Auf der anderen Seite besteht die große Gefahr,
dass dann wieder nicht gegengesteuert wird. Dennoch ist das Vorgehen
der US-Notenbank derzeit nicht unbedingt ein Fehler, denn sie
versucht, eine länger anhaltende Rezession, die auch die
Kreditkartenunternehmen in große Schwierigkeiten bringen würde, zu
verhindern. Aber -- wie gesagt -- es besteht die Gefahr, dass nicht
rechtzeitig gegengesteuert wird.

Ist es ein Fehler, die Stellschraube Zinspolitik aus der Hand zu
geben?
Gerke: Das wäre angesichts der Alternativen, die es derzeit gibt,
eine überzogene Kritik. Zwar hat die US-Notenbank ihr Zinspulver
verschossen, aber sie hat natürlich noch andere Möglichkeiten wie den
Aufkauf notleidender Engagements. Dennoch wird die Fed nicht in der
Lage sein, sich voll gegen die Rezession zu stemmen. Es ist aber
richtig, dass man versucht, sie abzuschwächen.

Wird die EZB angesichts des starken Euro und der sinkenden
Inflationsrate gezwungen sein, die Zinsen in Richtung ein Prozent zu
senken?
Gerke: Die EZB hat durch sinkende Rohstoffpreise und schnell
nachlassenden Inflationsdruck auf dem Markt Spielraum bekommen. Sie
kann und sollte -- auch angesichts der niedrigen Zinsen in den USA
--die nächsten Zinssenkungsschritte einleiten.

Die Rettungsschirme für die Banken sind längst aufgespannt.
Derzeit haben Konjunkturpakete zur Eindämmung der Krise
Hochkonjunktur. Kommt da nicht die Bekämpfung der Ursache der Krise
zu kurz?
Gerke: Es mag sein, dass die Ursachenbekämpfung derzeit zu kurz
kommt. Das ist aber nicht dramatisch. Denn zur Ursachenbekämpfung hat
man auch in den kommenden Monaten Zeit, kann sich grundlegend von
Experten beraten lassen, wie man die Finanzwirtschaft und die
Notenbank-Politik weltweit neu organisieren soll und wie man
insbesondere die Aufsicht international anders gestalten muss und
soll. Wichtig ist, dass man im Moment nicht tatenlos zuschaut, wie
Kreditinstitute in die Insolvenz geraten und wie die Wirtschaft in
eine tiefe Rezession hineingerät. Hier ist schnelles Handeln
notwendig. Dabei muss man sich aber immer vor Augen führen, dass
viele der Maßnahmen, die man ergreift, zu Lasten der nächsten
Generationen gehen und insofern gute Investments darstellen müssen.
Ich bin kein Anhänger von Einzelmaßnahmen -- wie etwa steuerliche
Vergünstigungen für schadstoffarme Neuwagen. Ich bin dafür, generell
die Mehrwertsteuer zu senken und damit allen Bürgern einen Anreiz zu
geben. Denn Waren und Dienstleistungen muss jeder kaufen.
Gegebenenfalls kann man auch den Solidaritätszuschlag abschaffen.
Diese Maßnahmen sind längerfristig vernünftig und sinnvoller, als das
Steuersystem immer komplexer zu machen. Hier befinde ich mich im
Widerspruch zur aktuellen Politik der Bundesregierung.

Die Bundesregierung will gerade mit dem Konjunkturpaket II in die
Infrastruktur investieren...
Gerke: Soweit es Zukunftsinvestments sind, die man vorziehen kann,
ist es sicherlich vertretbar. Das entbindet aber nicht von der
Verantwortung für das völlig missratene deutsche Steuersystem und die
sehr hohe Belastung der Bürger. Wenn man jetzt die Sozialbeiträge und
die Mehrwertsteuer senken kann, erreicht man in jedem Fall nicht nur
kurz- sondern auch mittelfristig vernünftigere Strukturen als wir sie
zurzeit haben.

Belegt der Milliarden-Betrugsfall des Ex-NASDAQ-Chefs Bernard
Madoff, dass viele aus den Fehlern nichts gelernt haben?
Gerke: Madoff hat offenbar schon Jahre vor der Krise mit enormer
krimineller Energie sein Schneeballsystem installiert. Es ist
erschreckend, dass jemand, der eine so wichtige Funktion an der Börse
hatte, nicht über eine höhere Moral verfügt. Noch bedenklicher ist,
dass die sonst auch von deutschen Firmen so gefürchtete
US-Börsenaufsicht SEC Herrn Madoff nicht früher auf die Schliche
gekommen ist. Da haben die Amerikaner noch eine Menge Hausaufgaben zu
erledigen.

Eigentlich sollte es doch generell auffällig sein, wenn jemand
hohe Renditen verspricht.
Gerke: Ja, dann sollte man immer hellhörig werden. Denn hohe Renditen
sind nur mit hohen Risiken zu erzielen. Genau das haben auch die
Investmentbanken gemacht.

Sollte der Staat dann nicht Finanzprodukte, die hohe Renditen
verheißen, besser gleich untersagen?
Gerke: Nein, es wäre völlig verkehrt, jetzt Risiken zu verbieten.
Dann würde man letztlich auch Innovationen verbieten -- etwa bei
Investitionen in risikoreiche Forschung. Es ist allerdings ganz
wichtig, dass man diejenigen, die im Finanzbereich hohe Risiken mit
Geldern anderer eingehen, vorschreibt, genügend Haftungskapital
vorzuhalten und Aufsichtsbehörden gegenüber Bücher transparent zu
führen. Das halte ich nicht nur für Investmentbanken, Versicherungen
und traditionelle Banken für erforderlich, sondern vor allem auch für
Hedge-Fonds und Private-Equity-Firmen.

In Deutschland gehen Privatbanken und Sparkassen von einem für sie
guten Jahr 2009 aus. Gehen die Banken also wieder als Gewinner aus
einer Wirtschaftskrise hervor?
Gerke: Die Banken, die ein tragfähiges -- andere würden sagen
langweiliges -- Geschäftsmodell haben wie zahlreiche Regionalbanken,
Genossenschaftsbanken und Sparkassen, haben bewiesen, dass sie
wesentlich krisenfester sind als Banken, die hochspekulativ im Markt
sind. Sie haben auch bewiesen, dass sie die von ihnen mitgetragenen
Landesbanken zum Teil gar nicht brauchen. Genossenschaftsbanken und
Sparkassen haben sich also glänzend bewährt, was man von den
Landesbanken nicht behaupten kann. Bei den Landesbanken ist eine
Strukturreform überfällig. Aber hier sträuben sich noch die einzelnen
Landesregierungen in unverantwortlicher Form.

Kann das deutsche Drei-Säulen-Prinzip als Blaupause für andere
Staaten dienen?
Gerke: Das müssen die anderen Staaten selbst entscheiden. Auf keinen
Fall aber sollten sie das mit dem Drei-Säulen-Prinzip verbundene
System der Landesbanken übernehmen.

Wann rechnen Sie mit einem Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise?
Gerke: Die größten Auswirkungen der Krise auf die Realwirtschaft
werden wir erst im kommenden Jahr sehen. Dazu wird auch gehören, dass
die Zahl der Arbeitslosen wieder steigt. Ich rechne erst Ende 2009
mit einem Hoffnungsschimmer für die Wirtschaft.
Das Interview führte Werner Kolbe

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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