Berliner Morgenpost: Revolution für die Freiheit - Leitartikel
Geschrieben am 08-11-2009 |
Berlin (ots) - 20 Jahre Mauerfall - das klingt so leicht, fast läppisch, als sei da vor 20 Jahren etwas zusammengefallen. Einfach so, weg war die Mauer? Der fast zur Marke geronnene Begriff führt in die Irre. Was wir heute feiern, sollte anders heißen: 20 Jahre friedliche Revolution für die Freiheit. Nichts anderes war es: eine Revolution mit allen Risiken für Leib und Leben der Akteure. Eine friedliche Revolution, was angesichts der heutigen Erkenntnisse, wie millimeterknapp man einer gewaltsameren Niederschlagung der Demonstrationen entronnen ist, eine glückliche Sensation ist. Und es war eine friedliche Revolution für die Freiheit, gegen eine Gewaltdiktatur der Unfreiheit, der Menschenrechtsunterdrückung und Menschenverachtung. Kerzen und Gesänge haben in Leipzig, Berlin und anderswo die in Stellung gebrachten Panzer und Geschosse zum Schweigen angehalten. Der Wille des Volkes war stärker als die Macht der Funktionäre. Wir feiern heute den Mut der Menschen, die Freiheit über alles gestellt, alles riskiert und alles gewonnen haben. Die Mauer ist nicht gefallen, sie ist zu Fall gebracht worden. Es gibt zahlreiche bekannte Akteure, ohne die die deutsche Einheit nie möglich geworden wäre, Bürgerrechtler wie Biermann, Havemann oder Fuchs, Politiker wie Gyula Horn, Genscher und vor allem Helmut Kohl, und natürlich der Verleger Axel Springer, der Jahrzehnte mutiger und unverdrossener als jeder andere gegen den Zeitgeist für eine friedliche deutsche Wiedervereinigung gesprochen, geschrieben und gehandelt hat. Doch bei allem berechtigten Dank an diese Wegbereiter und Gestalter: Vor allem feiern wir heute einen Gedenktag für die stillen, anonymen Helden der Revolution. Die Deutschen tun das - natürlich - ohne Pathos. Pathos liegt uns nicht mehr. Und das Pathos der Freiheit erst recht nicht. Stattdessen war in den vergangenen 20 Jahren viel Genörgel. Es ist interessant, heute noch einmal nachzulesen, wer damals, noch lange nach dem 9. November, gegen die Wiedervereinigung polemisierte - und heute so tut, als sei er schon immer dafür gewesen. Es ist aufschlussreich, heute noch einmal nachzuvollziehen, mit welch kleinlichen und dummen Argumenten damals gegen die Einheit agitiert wurde: zu teuer, nur dem Konsumterror verhaftet, außenpolitisch zu gefährlich, bei einer behutsamen Reform der DDR gar nicht nötig, hieß es damals; sogar ein neuer Nationalismus wurde heraufbeschworen und dass die Deutschen bald wieder in Schaftstiefeln über den Linden-Boulevard paradieren würden. Heute mag sich daran keiner mehr erinnern. Es ist uns peinlich. Damals war es schick, über Bananen und blühende Landschaften zu lachen. Heute nehmen wir das alles lässig als Selbstverständlichkeiten hin. Und viele sehnen sich schon wieder nach mehr Gleichheit. Man müsse es ja mit der Freiheit nicht übertreiben. Die Freiheit ist ein "sonderbar Ding". Sie ist unbequem, sie verlangt dem Einzelnen viel mehr ab als ein Leben unter der süßen Droge der Fremdbestimmung. Man ist für sich selbst verantwortlich. Das ist Arbeit, Entscheidung, Verantwortung. Deswegen fremdeln gerade viele Deutsche damit und flüchten sich lieber unter die scheinbar schützenden Fittiche eines allzuständigen Umverteilungsstaates, der, indem er nur das Beste für seine unmündigen, ergo: unzurechnungsfähigen Bürger zu wollen vorgibt, zum freundlichen Würgegriff ansetzt. Freiheit ist unbequem. Aber die Freiheit, zu sagen, was man denkt, die Freiheit, zu lieben, wen und wie man will, die Freiheit, zu glauben, was man möchte, die Freiheit, hochzusteigen und tief zu fallen, unterscheidet den Menschen vom Tier, das schillernde Individuum vom farblosen Kollektivwesen. Freiheit hat immer auch mit Grenzüberschreitung, Exzessen, Missbräuchen zu tun. Kontrollierte Freiheit, gelenkte Freiheit, perfekte Freiheit gibt es nicht. Die Freiheit ist wie das Leben - wild, widersprüchlich, wunderschön, aber nie vollkommen. 20 Jahre nach der friedlichen Revolution für die Freiheit müssen wir uns fragen, ob wir die Freiheit, mit allem, was dazugehört, wirklich wollen. Denn die Freiheit ist, wie der Künstler Stephan Balkenhol es in seiner für den Axel Springer Verlag geschaffenen Mauerläuferskulptur gezeigt hat, auch ein "Balanceakt". Man kann schwanken, taumeln und wieder abstürzen. Wenn man das nicht will, muss man kämpfen. Die friedliche Revolution für die Freiheit hat gerade erst begonnen. Oder, wie es der Freiheitskünstler Joseph Beuys in einer berühmten Arbeit 1972 zitiert hat: "La rivoluzione siamo noi" (Die Revolution sind wir).
Originaltext: Berliner Morgenpost Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2
Pressekontakt: Berliner Morgenpost Chef vom Dienst Telefon: 030/2591-73650 bmcvd@axelspringer.de
Kontaktinformationen:
Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.
Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.
Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.
http://www.bankkaufmann.com/topics.html
Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.
@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf
E-Mail: media(at)at-symbol.de
235530
weitere Artikel:
- WAZ: Rot-Rot-Grün als Option. Kommentar von Christoph Meinerz Essen (ots) - Da sollte sich niemand täuschen lassen: Trotz des klar formulierten Anspruchs auf einen radikalen Politikwechsel, der sich am deutlichsten in ihren Verstaatlichungs-Sehnsüchten widerspiegelt, ist die NRW-Linke mit ihrem Wahlprogramm in weiten Teilen kompatibel mit SPD und Grünen. Kostenlose Bildung für alle, längeres gemeinsames Lernen, mehr sozialer Wohnungsbau, bessere Finanzausstattung der Kommunen - solche Forderungen sind mit den Vorstellungen von SPD und Grünen deckungsgleich. Dass Rot-Rot-Grün in NRW eine reale mehr...
- Westfalenpost: 20 gute Jahre teilweise gemeinsam Hagen (ots) - 9.11.1989: Ein Glücks-Fall für Deutschland Von Bodo Zapp 20 Jahre nach der Öffnung der Mauer ist eine Ostdeutsche als Kanzlerin der Bundesrepublik wiedergewählt worden. Hätte das vor 25 Jahren irgendjemand vorhergesagt, wäre er als weltfremder Phantast abgekanzelt worden. Wunderbar, dass die Skeptiker - und wer war das nicht? - von der Geschichte eines Besseren belehrt wurden. Für vier von fünf Bürgern in West und Ost sind die Ereignisse des 9. November 1989 ein Glücksfall, der sie noch immer tief berührt. Verbunden mit mehr...
- WAZ: Fall der Mauer vor 20 Jahren - Das Ende eines Regimes. Leitartikel von Rolf Potthoff Essen (ots) - Das böseste, zugleich bedenkenschwerste Wort zur Wiedervereinigung wird der damaligen britischen Premierministerin Thatcher zugeschrieben: "Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da." Klarer lässt sich das Misstrauen gegen den Mauerfall kaum ausdrücken. Umso mehr hebt sich angesichts dieser historisch begründeten Bürde die Haltung der Supermächte, in Person von Bush senior und Gorbatschow, hervor: Sie vertrauten den Deutschen. Und es war Kanzler Kohl, der die Chance zur Wiedervereinigung erkannte, mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Geschichte / Mauerfall Osnabrück (ots) - Auch ein Verdienst der Gäste Selten sind ausländische Staatsgäste so willkommen wie bei den Feiern zum Jahrestag des Mauerfalls. Denn ohne die USA und unsere europäischen Verbündeten wäre dieser Glückstag der Deutschen nicht denkbar gewesen. Amerikaner, Franzosen, Briten und viele andere haben in den kritischen Tagen der Wende geholfen, geraten oder geduldig stillgehalten, als die damalige Regierung Kohl die Gunst der Stunde nutzte. Das ist unvergessen. Hier heißt es, Dank zu sagen und sich gemeinsam über den Fall mehr...
- Neue OZ: Kommentar zu Verkehr / Aufbau West / Ramsauer Osnabrück (ots) - Ramsauers Rückwärtsgang Peter Ramsauers Start ins Amt des Bundesverkehrsministers ist gelinde gesagt unglücklich verlaufen. Erst die Verwirrung um die Pkw-Maut, deren Einführung Ramsauer ernsthaft anfing zu diskutieren, von der er aber wenige Stunden später nichts mehr wissen wollte. Und nun das Projekt "Aufbau West", das die Verkehrswege in den alten Bundesländern in Schuss bringen soll. So richtig die Diagnose des CSU-Politikers ausfällt, so realitätsfremd ist seine Behandlung des Infrastruktur-Patienten. Heute mehr...
|
|
|
Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten
Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:
LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre
durchschnittliche Punktzahl: 0 Stimmen: 0
|