WAZ: Politisch Lied
- Kommentar von Gudrun Norbisrath
Geschrieben am 16-08-2006 |
Essen (ots) - Es ist schon eine erstaunliche Entwicklung, die da zu beobachten ist. Noch vor kurzem verging kein Tag ohne öffentliche Debatte über Peter Handke, jetzt erregt Günter Grass die Gemüter wie sonst nur die Rente oder der Benzinpreis. Die Gesellschaft entdeckt ihre Dichter. Aber Vorsicht. Das ist kein Grund zur Freude, denn die Entdeckung ist höchst einseitig und hat ein schräges Vorzeichen. Man empört sich, weil der Dichter nicht im stillen Kämmerlein vor sich hindichtet, sondern eine politische Meinung hat, ja, dass er politisch handelt. Politisch Lied ist ein garstig Lied, fanden schon immer alle, die sich angesprochen fühlten. Die neue wilde Feindschaft gegen Günter Grass hat viel mit enttäuschter Liebe zu tun: Mancher sieht sich getäuscht, der an den Linken geglaubt hat. Das ist fatal. Hat nicht auch Grass damals geglaubt? Dass Literatur die Gesellschaft spiegelt, gerät über der verengten Diskussion in Vergessenheit. Dabei rührt die wütende Ablehnung wohl auch daher, dass mancher bis heute nicht mit seiner eigenen Begeisterung für das NS-Regime zurecht kommt.
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