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Mittelbayerische Zeitung: Sigmar Gabriel: Die SPD ist eine Wertegemeinschaft -- Interview mit dem SPD-Vorsitzenden

Geschrieben am 07-09-2010

Regensburg (ots) - Im Interview mit der Mittelbayerischen Zeitung
spricht der SPD-Vorsitzende über die Folgen des Atomkompromisses,
Thilo Sarrazin und die Rente mit 67.

Herr Gabriel, ihr Nachfolger im Amt des Bundesumweltministers,
Norbert Röttgen (CDU), hat Sonntagnacht im Kanzleramt der
Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke zugestimmt. Wie geht es Ihnen
dabei?

Sigmar Gabriel: Es geht nicht um meine persönliche
Befindlichkeiten, sondern um die Zukunft unserer Energieversorgung.
Schwarz-Gelb ist vor der Atomlobby eingeknickt. Der Ausbau der
erneuerbaren Energien wird brutal gestoppt - mit fatalen Folgen für
die 300.000 Beschäftigten in dieser Zukunftsbranche. Die vier
Energie-Monopolisten werden mit alten Atomkraftwerken zusätzliche
Milliardengewinne einfahren, ohne dass vorher über Sicherheitsfragen
auch nur diskutiert wurde. Der Bundesumweltminister hat auf ganzer
Linie verloren. Denn er ist nach dem Gesetz verantwortlich für die
Reaktorsicherheit.

Sie hatten angekündigt, über die SPD-geführten Länder eine
Verfassungsklage gegen die Laufzeitenverlängerung einzureichen.
Bleibt es dabei?

Ja. Wenn die Bundesregierung wirklich versuchen sollte, die
Laufzeiten ohne Beteiligung des Bundesrates zu verlängern, wäre das
nach meiner festen Überzeugung ein glatter Verfassungsbruch. Wenn in
einem Land wie Hessen ein marodes Atomkraftwerk wie Biblis A acht
Jahre weiterlaufen soll, dann heißt das, es gibt einen enormen
zusätzlichen Kontrollbedarf, für den das Land aufkommen muss. Und
damit ist die Länderkammer zwingend im Spiel. Und natürlich werden
wir in einer neuen Bundesregierung mit SPD-Beteiligung zum
Atomausstieg zurückzukehren.

Wer wäre denn in so einer Bundesregierung der Wunschpartner? Immer
noch die Grünen?

Sicher. Natürlich ist die Schnittmenge mit den Grünen größer als
mit jeder anderen Partei. Und die Umfragen zeigen ja, dass Rot-Grün
klar vor Schwarz-Gelb läge, wenn es jetzt eine Bundestagswahl gäbe.

Und die Linke?

Die Partei "Die Linke" besteht eigentlich aus zwei Parteien, einer
pragmatischen im Osten und einer spinnerten im Westen. Ich würde
gerne wissen, mit welcher von beiden ich es zu tun habe.

Eine Annäherung an Links wird es mit Ihnen nicht geben?

Warum sollte ich das machen? Die müssen wissen, ob sie sich so
verändern wollen, dass sie mit uns regieren dürfen. Und wenn man an
die Wahl des Bundespräsidenten zurückdenkt sieht man, dass die noch
verdammt viel intern zu klären haben.

Noch mal zur Atomkraft: Sie haben davor gewarnt, dass das Thema
einen neuen gesellschaftlichen Großkonflikt aufbrechen lassen könnte.
Was meinen Sie damit?

Rot-Grün hat mit dem Atomkonsens für Planungs- und
Investitionssicherheit für die Erneuerbaren Energien gesorgt. Wer
Milliarden in einen Offshore-Windpark in der Nordsee investiert, muss
schon sicher sein, dass billiger Atomstrom nicht endlos die Netze
verstopft. Es gab auch keine großen Konflikte mehr um Atomenergie.
Das dürfte sich jetzt ändern.

An was denken Sie?

An gesellschaftliche Spannungen. Und daran, dass sich viele in der
Energiewirtschaft überlegen werden, ob sie in Deutschland investieren
werden.

Reden wir über Ihre Partei: Eigentlich müssen Sie als
SPD-Vorsitzender froh sein, jemanden wie Thilo Sarrazin in der Partei
zu haben, dem laut einer Umfrage jeder fünfte Bundesbürger seine
Stimme bei einer Wahl geben würde...

Wenn wir so wären, wie Politiker manchmal beschrieben werden,
nämlich blanke Opportunisten, dann wäre das so. Aber wir haben uns
bewusst anders entschieden.

Erläutern Sie uns das doch bitte.

Wir haben gesagt: Ja, es gibt viele Beispiele für gelungene
Integration, aber eben auch viele für misslungene Integration. Die
SPD führt die Integrationsdebatte seit Jahren - und wir haben mit dem
Ausbau von Sprachförderung und frühkindlicher Bildung oder mit dem
unter rot-grün beschlossenen Ganztagsschulprogramm auch dir richtigen
Antworten gegeben. Herr Sarrazin gibt als zentralen Grund für die
Misserfolge in der Integration eine angebliche Vorbestimmtheit ganzer
Völker und Kulturen durch Vererbung und die menschlichen Gene an.
Dieses Menschenbild ist es, das mit den Werten der SPD nicht
vereinbar ist. Und ganz nebenbei: Wenn Fleiß, Intelligenz und
Charakter erblich verankert sind, warum sollte sich einer da noch
anstrengen?

Es gibt auch diejenigen, die betonen, Herr Sarrazin habe das
Recht, seine Meinung zu sagen.

Das bestreitet auch niemand. Natürlich darf Herr Sarrazin das
alles sagen. Aber die SPD muss entscheiden, ob das, was er als
Menschenbild hat, zu uns passt. Wir sind nicht beliebig, wir sind
eine Wertegemeinschaft.

Sie sagen, die SPD stellt sich der Diskussion - an deren Ende aber
immer der Ausschluss Sarrazins aus der Partei steht...

Sarrazins Menschenbild missachtet meiner Meinung nach die deutsche
Leitkultur. Die steht nämlich in der Verfassung und da heißt es in
Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Warum haben die Volksparteien Sarrazin das Thema Integration
gelassen?

Das haben wir nicht. Wir haben erst vor ein paar Monaten mit Klaus
Wowereit eine große Konferenz zum Thema Integration in Berlin
gemacht. Leider sind da aber nur wenige Journalisten hingekommen.

Aber Tatsache ist doch, dass Sarrazin das Thema in den Fokus
gerückt hat...

Entscheidend ist doch: Sind wir jetzt nur alle aufgrund der
Debatte erregt oder sind wir bereit, ernsthaft über Integration zu
reden? Und sind wir bereit, dem Thema in unserer Politik in Städten,
Ländern und auf Bundesebene den hohen Stellenwert einzuräumen, den es
braucht?

Sie haben Lehramt für Deutsch, Politik und Sozialkunde studiert.
Wie würden Sie Schülern erklären, wie Integration in Deutschland
funktionieren muss?

Es geht um den alten Leitsatz "fördern und fordern". Es geht damit
los, dass man die deutsche Sprache können muss, wenn man in
Deutschland etwas werden will. Das bedeutet Sprachförderung im
Kindergarten. Zweitens: Jugendliche - und zwar nicht nur ausländische
- brauchen einen vernünftigen Schulabschluss. Dazu muss man den
Kindern und Jugendlichen sagen: Ihr müsst euch alle anstrengen. Den
Eltern würde ich sagen: Ihr liebt eure Kinder - dann sorgt dafür,
dass sie die deutsche Sprache sprechen und eine gute Schulausbildung
machen. Und wenn sich Eltern nicht darum kümmern, dass ihre Kinder
nicht in die Schule gehen, dann muss der Staat dafür sorgen, dass die
Schulpflicht auch durchgesetzt wird.

Sie planen ein Integrationsprogramm "Deutschland plus". Worum geht
es da?

Es geht im Kern um Bildung. Es geht aber auch darum, am guten
Beispiel zu lernen. Migranten sollten in möglichst vielen
gesellschaftlichen Bereichen vertreten sein, um Vorbilder abzugeben
und Ansprechpartner zu sein, damit Migranten den deutschen Staat
nicht als etwas Fremdes empfinden. Mein Hauptanliegen ist aber, dass
diese Integrationsbemühungen messbar werden.

Wie soll das gehen?

Wir brauchen einen nachprüfbaren und auf der Basis von
wissenschaftlichen Daten gefertigten Bericht über Erfolge und
Misserfolge in der Integration. Wir bekommen jeden Monat eine
Arbeitslosenstatistik, jeden Monat hören wir, wie es in der
Wirtschaft läuft. Beim Thema Integration wird die Debatte öffentlich
nicht geführt. Ich finde, es muss zur Normalität gehören, dass wir
öffentlich darüber reden, wie viele ausländische Jugendliche welchen
Schulabschluss geschafft haben, welche Ziele wir in der
Integrationspolitik erreicht haben und welche nicht. Dann würden wir
auch nicht solche Eruptionen wie derzeit erleben. Die Kernantwort auf
Integrationsprobleme lautet aber "Bildung, Bildung, Bildung".

Damit liegen Sie auf einer Linie mit der Kanzlerin...

Dann muss die Kanzlerin den Ländern und den Städten und Gemeinden
helfen, mehr Kindergärten und Ganztagsschulen finanzieren zu können.
Und sie darf vor allen Dingen Eltern nicht davon abhalten, ihre
Kinder in die Kita zu schicken, indem sie "Herdprämien" austeilt.

Letztes Thema: Unter Ihnen hat die SPD die Abkehr von der Rente
mit 67 eingeleitet...

... Das stimmt nicht. Wir haben das gemacht, was im Gesetz zur
Rente mit 67 steht: wir haben 2010 überprüft, ob die
arbeitsmarktlichen Voraussetzungen für die Einführung der Rente mit
67 da sind. Und das sind sie nicht. Jetzt geht es darum, diese
Voraussetzungen zu schaffen. Wir scheinen die einzige Partei zu sein,
die das Gesetz ernst nimmt.

Aber die Entscheidung wurde dennoch als Kurswechsel gewertet.

Es geht nicht darum, wie etwas von Journalisten bewertet wird.
Eine Partei muss wissen, wie das Leben wirklich ist.

Originaltext: Mittelbayerische Zeitung
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/62544
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_62544.rss2

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


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