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Stuttgarter Nachrichten: Günter Grass: Wir brauchen ein neues 68 - "Köhler könnte Klar besuchen und dann Entscheidung über Begnadigung treffen"

Geschrieben am 18-04-2007

Stuttgart (ots) - Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass
spricht sich dafür aus, dass Bundespräsident Horst Köhler den
früheren RAF-Terroristen Christian Klar zu einem Gespräch im
Gefängnis besucht. Köhler muss über ein Gnadengesuch des Häftlings
entscheiden. "Der Bundespräsident ist ein mutiger Mann; er hat
wiederholt unbequeme Entscheidungen vertreten", sagte Grass im
Interview mit den Stuttgarter Nachrichten (Donnerstag): "Es steht mir
nicht zu, ihm zu raten, aber er könnte Christian Klar besuchen und
aus eigener Anschauung eine Entscheidung treffen, die dann allseits
akzeptiert werden sollte."

Grass, der sich in den sechziger, achtziger und neunziger Jahren
politisch für die SPD engagierte, mahnt eine Erneuerung der
Demokratie an. Der Lobbyismus, nicht der Islam, sei der größte Feind
der Demokratie; er entmachte die Parlamente. "Umso dringender
brauchen wir ein neues Demokratieverständnis - ein neues 68, keinen
Abklatsch von damals natürlich, sondern eine ganz andere Wortwahl,
andere Zielsetzung. Mit dem Ziel, dass das Parlament wieder ein
handlungsfähiges Instrument der Bürger wird." Der Schriftsteller
warnte in diesem Zusammenhang, die 68er mit den RAF-Terroristen
gleichzusetzen. "Diese Verbrecher waren eine verschwindende
Minderheit. Der RAF-Terrorismus ist erst entstanden, als der
Studentenprotest schon abgeklungen war." Die 68er hätten die
Gesellschaft wohltuend verändert: "Unsere freie Lebensform verdanken
wir unter anderem auch dieser Bewegung." Heute nennt es Grass
gefährlich, "dass politisch vernünftige, notwendige und einsehbare
Lösungen nicht mehr gelingen, weil unsere Parlamentarier nicht mehr
frei in ihrem Entschluss sind. Die Lobbyisten werden immer stärker.
Wir brauchen eine Bannmeile ums Parlament". So sei die
Gesundheitsreform eine Missgeburt, die die Handschrift der
Pharmaindustrie, der Ärzte- und Apothekerverbände trüge.

Grass, der im letzten Herbst harsche Kritik dafür einstecken
musste, dass er erst in seiner 2006 erschienenen Autobiografie "Beim
Häuten der Zwiebel" über seine Zeit in der Waffen-SS geschrieben hat,
äußerte sich auch zur umstrittenen Grabrede von Baden-Württembergs
Ministerpräsident Oettinger auf den früheren Marinerichter Hans
Filbinger: "Die Reaktion bestätigt meine These, dass es keinen
Schlussstrich unter der deutschen Geschichte gibt und geben kann.
Oettingers Rede war an die rechte Klientel und an die
baden-württembergische CDU gerichtet, um sicher zu stellen, dass der
Redner einer von ihnen ist: stockkonservativ." Oettinger habe die
Wirkung falsch eingeschätzt und berufe sich darauf, dass Filbinger
damals juristisch korrekt gehandelt habe. "Aber es ist ja eben diese
grauenhafte Korrektheit, die nach wie vor in diesen Köpfen sitzt", so
Grass: "Das führte damals zu Schnellgerichten. Filbinger hat das
Todesurteil gegen einen Soldaten erlassen, als die deutschen
Einheiten längst von britischen Truppen eingeschlossen waren. Also
gab es überhaupt keinen Grund mehr, einem höheren Befehl zu folgen."
Grass lobte Kanzlerin Merkel dafür, Oettinger öffentlich kritisiert
und zur Entschuldigung gezwungen zu haben.

Zu seinem langen literarischen Schweigen über seine SS-Zeit 1945
sagte Grass der Zeitung: "Darüber zu schreiben, habe ich mir
aufgespart, bis ich eine literarische Form dafür gefunden habe: Ich
musste ich mein Misstrauen gegenüber dem autobiografischen Schreiben
überwinden. Autobiografisches darf nicht zulassen, dem Erinnern eine
Tendenz zu geben, Schuld zu vereinfachen, zur Lügengeschichte
verkommen zu lassen. Ich wollte den Jungen entdecken, der ich damals
war - eine auf Anhieb fremde Person. Verführbar und verführt. Wider
jede Vernunft. Das sollte geschrieben werden. Ich habe meine Lektion
kapiert." Grass habe als Jugendlicher versagt, weil er damals
"wichtige Fragen in den entscheidenden Situationen, wie ich sie
überschauen konnte, nicht gestellt habe: Als mein Onkel erschossen
wurde, als Lehrer von unserer Schule verschwanden, als ein Junge im
Arbeitsdienst verschwand, weil er immer das Gewehr fallen ließ."
Diese Versäumnisse werfe er sich vor. "Die kurze Phase bei der
Waffen-SS ist hingegen etwas, wofür ich nichts konnte. Dennoch, durch
das spätere Wissen über die SS-Verbrechen, das ich seinerzeit nicht
hatte, hat sich bei mir Scham angereichert. Das hat offenbar dazu
geführt, dass ich weitgehend darüber geschwiegen habe - aber wiederum
nicht so geschwiegen, wie ich es selbst in Erinnerung habe." So gebe
es Radiomitschnitte und Notizen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre,
in denen er von der Militärzeit und der SS erzählte. Seine
Autobiografie habe die Zungen gelöst: "Ich habe noch nie so viele
Leserbriefe bekommen von alten und jungen Menschen, die nun in ihren
Familien über ihre NS-Zeit sprechen."

Originaltext: Stuttgarter Nachrichten
Digitale Pressemappe: http://presseportal.de/story.htx?firmaid=39937
Pressemappe via RSS : feed://presseportal.de/rss/pm_39937.rss2

Pressekontakt:
Rückfragen bitte an:
Stuttgarter Nachrichten
Chef vom Dienst
Joachim Volk
Telefon: 0711 / 7205 - 7110
cvd@stn.zgs.de


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