Allianz.com News sprach aus Anlass der 'Lebensziele'-Studie mit Moritz Kraemer, Analyst bei der Ratingagentur Standard & Poor's, über die Auswirkungen alternder Gesellschaften auf Staatshaushalte und Kreditwürdigkeit von Ländern.
Allianz.com News: Herr Kraemer, sollten Industriestaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien das Rating von Standard & Poor's genauso ernst nehmen wie es börsennotierte Unternehmen längst tun?
Kraemer: Die letztendlichen Adressaten und Nutzer von Kreditratings sind Investoren, die sie bei ihrer Anlageentscheidung berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund sind Ratings auch für auf dem Kapitalmarkt tätige Regierungen von Bedeutung. Die angesprochenen Regierungen in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien stellen hier keine Ausnahme dar.
? Was sind die größten Bedrohungen für die Kreditwürdigkeit dieser vier Staaten?
Kraemer: Mit der Ausnahme Italiens stufen wir alle Ratings als stabil ein. In Italien gefährdet die außergewöhnlich hohe und seit jüngster Zeit wieder ansteigende Schuldenlast, gekoppelt mit sehr bescheidenen Wachstumsaussichten, die Bonität.
Aber auch in Deutschland und Frankreich stellen die strukturellen budgetären Ungleichgewichte und die Folgen auf die Staatsverschuldung das größte Risiko dar. Dieser Druck wird mit zunehmender Alterung der Gesellschaft eher noch ausgeprägter werden.
Spanien sieht sich langfristig mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Während der Umbau der Sozialsysteme dort eher noch schleppender verläuft als in Deutschland und Frankreich, ist es Spanien gelungen, durch konsequente Haushaltskonsolidierung und eine rasche Rückführung der Schuldenquote die Fähigkeit zur Absorption alterungsbedingter Mehrausgaben für Rente und Gesundheit zu stärken.
In allen genannten Ländern, in verschiedenem Ausmaß, könnte eine Reformpolitik, welche die im internationalen Vergleich bescheidenen Erwerbsquoten steigert, mittelfristig die staatliche Kreditwürdigkeit untermauern.
? Welche Auswirkungen werden diese Risiken konkret haben?
Kraemer: Wird den absehbaren Trends nicht effektiv gegengesteuert, werden Staatsausgaben, Defizite und öffentliche Schulden zunächst gemächlich, ab 2020 herum dann aber mit unaufhaltsamer Beschleunigung ansteigen.
Bis zur Jahrhundertmitte würden die Schuldenquoten beim Ausbleiben jeglicher Politikreaktion in Frankreich und Deutschland auf 200 Prozent oder mehr des Bruttosozialprodukts anschwellen, fernab von Maastricht-Zielen, um die heute noch gerungen wird.
Diese Entwicklung wäre mit erstklassigen Bonitätseinstufungen kaum mehr kompatibel. Vielmehr würden die budgetären Kennziffern mehr denjenigen der Staaten ähneln, die Standard & Poor's heute als 'spekulativ' einschätzt, wie etwa die Türkei oder Ägypten.
? Wie sollten die Staaten gegensteuern? Käme eine Reaktion jetzt noch rechtzeitig?
Kraemer: Wie erwähnt, nimmt der Ausgabendruck nicht linear zu, sonder manifestiert sich vor allem ab dem Jahr 2020 herum. Dies soll aber nicht bedeuten, dass Regierungen ihre Reformbestrebungen auf die lange Bank schieben können.
Insbesondere im Bereich der Rentensysteme weisen Reformen eine lange Vorlaufzeit auf. Jede Verzögerung macht die letztendliche notwendige Anpassung daher um so schmerzhafter.
Wie die 'Lebensziele'-Studie zeigt, sind die Menschen in den vier Ländern noch längst nicht ausreichend auf diese Veränderungen vorbereitet. Diese Vorbereitung in Form verstärkter Eigenvorsorge und Lebensplanung in einem Umfeld eines späteren Renteneintrittsalters bedürfen auch einer Menge Zeit.
Der Politik fällt in diesem Zusammenhang eine Führungsrolle zu, die über kurzatmige taktische Überlegungen erhaben sein muss. Dazu zählt ganz ausdrücklich auch eine konsequente Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, wie etwa in Spanien, damit die finanzpolitische Handlungsfähigkeit auch langfristig gesichert bleibt.
Davon sind wir in Italien, Frankreich und Deutschland bedauerlicherweise noch sehr weit entfernt: ausgeglichene Haushalte tauchen nicht einmal mehr in den mittelfristigen Finanzplänen auf.
? Wenn die neue deutsche Bundesregierung diese Reformen jetzt nicht so energisch umsetzt, kann man deutsche Staatsanleihen dann noch als Geldanlage für die Altersvorsorge empfehlen?
Kraemer: Das Programm der großen Koalition ist in zweierlei Hinsicht verheißungsvoll: das Tabu eines Renteneintrittsalters über 65 Jahre hinaus ist gefallen, und der Haushaltskonsolidierung wurde eine unerwartet große Prominenz eingeräumt.
Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass dieser wieder gefundene Konsolidierungswille zumindest zum Teil der Unfähigkeit geschuldet ist, sich in strukturellen Reformen zur Erhöhung des deutschen Potentialwachstums zu einigen, insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
Unterm Strich beurteilen wir die Kreditwürdigkeit des Bundes aber nach wie vor als extrem stark.
Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen, der Ihnen oben rechts zur Verfügung gestellt wird.
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