Landeszeitung Lüneburg: Einwanderer sind keine Rivalen -- Interview mit Niedersachsens Sozialministerin Aygül Özkan.
Geschrieben am 30-09-2010 |
Lüneburg (ots) - Die Schweiz verbietet Minarette. In Schweden
werden erstmals Rechtsradikale ins Parlament gewÌhlt. In den
Niederlanden hÌngt die Regierung vom Wohlwollen des Islamhassers
Geert Wilders ab. In Deutschland reduziert Thilo Sarrazin das Problem
mangelnder Integration auf die Gene. Die hÌrter werdende Debatte
Ïberdeckt die Erfolgsgeschichten der Integration -- etwa die
erstmalige Ernennung einer Ministerin mit Migrationshintergrund:
Sozialministerin AygÏl Úzkan: "Die deutsche Sprache ist der
SchlÏssel." Hat der Sarrazin-Streit die Debatte um die Integration
zurückgeworfen?
Aygül Özkan: In seiner Zuspitzung hat der Streit eher geschadet.
Die Thesen sind ihrer Verallgemeinerung trennend, nicht verbindend.
Andererseits freut es mich, dass die Diskussion jetzt auch inhaltlich
weitergeführt wird.
Befürchten Sie durch die Wiederbelebung biologistischer
Erklärungen für soziale Probleme verstärktes Schwarz-Weiß-Denken?
Özkan: Schwarz-Weiß-Denken ist die Folge diskreditierender
Äußerungen. Damit sind Probleme einer Gesellschaft allerdings noch
nie gelöst worden. Mir kommt vor allem der Respekt vor den Menschen
viel zu kurz, die in der ersten Generation vor 50 Jahren zu uns
gekommen sind und seitdem viel für dieses Land geleistet haben. Die
unser Land mit aufgebaut haben. Wir sorgen jetzt dafür, dass die
vierte und fünfte Generation daran anknüpfen kann.
Sind die von Jugendrichterin Kirsten Heisig beschriebenen
Parallelwelten typisch für Neukölln oder Wilhelmsburg, aber ohne
Bezug zum Flächenland Niedersachsen?
Özkan: Parallelwelten sind ein generelles Problem. Es geht um eine
Schicht zu der nicht nur Türken oder Araber gehören, sondern auch
Deutsche. Für diese Schicht müssen wir etwas tun. Auch in
Niedersachsen. Lange sträubte sich die Union gegen die Einsicht, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist.
Sind sie der personifizierte Beleg dafür, dass ihre Partei in der
Realität angekommen ist?
Özkan: Die Union hat früher als viele andere Parteien ernst
gemacht mit konkreten Integrationsmaßnahmen wie zum Beispiel
Integrationskursen und Integrationslotsen. Es führt doch nicht
weiter, nur abstrakte programmatische Debatten zu führen. Auch meine
Ernennung zur Ministerin ist ein Zeichen für eine neue Normalität in
Deutschland und in der Union.
Welchen Effekt hätten türkischsprachige Gymnasien in Deutschland,
wie sie der türkische Premier Erdogan fordert, für die Integration?
Özkan: Integration wird mit türkischsprachigen Schulen nicht
gefördert, sondern behindert. Denn die deutsche Sprache ist und
bleibt der Schlüssel zur Integration.
Sorgt eine verzerrte deutsche Sicht, die Islam mit islamistisch
und Ehrenmorden gleichsetzt, für eine stärkere Abkapselung türkischer
Jugendlicher?
Özkan: Grundsätzlich muss man bereit sein, sich auf den anderen
einzulassen. Angst und Vorurteile trennen die Menschen, statt sie zu
verbinden. Integration gelingt oder scheitert im Kleinen: im privaten
Umfeld, im Verein, im Kindergarten, in der Schulklasse, in der
Elternversammlung, in der Nachbarschaft. Und da sind wir alle
gefordert. Wir alle müssen verstehen, dass in Deutschland geborene
und zugewanderte Menschen nicht Rivalen sind, sondern Partner im
Deutschland der Zukunft. Übrigens ist deshalb auch unser Kurs der
Imamausbildung in Niedersachsen richtig und notwendig. Wir brauchen
eine zielgerichtete Ausbildung der Imame vor Ort in Deutschland,
damit diese einen stärkeren Beitrag zur Integration leisten. An der
Universität Osnabrück wird dafür eine hervorragende Vorarbeit
geleistet.
Wie kann dem Phänomen begegnet werden, dass Einwanderer der
zweiten und dritten Generation oft schlechter integriert sind als
ihre Eltern?
Özkan: Wer die deutsche Sprache lernt, hat eine Chance. Wer sie
nicht lernt, hat keine Chance. Daher haben wir das letzte KiTa-Jahr
für Kinder zur Pflicht gemacht, bei denen in der obligatorischen
Sprachstandserhebung Förderungsbedarf festgestellt wird. Wir stellen
aber in der Praxis fest, dass dieses eine Jahr Sprachförderung häufig
nicht ausreicht. Deshalb müssen wir die Menschen davon überzeugen,
ihre Kinder früher in die KiTa zu geben. Wir müssen den Eltern klar
machen, dass es nichts Schlimmes oder Verwerfliches ist, sein Kind in
eine KiTa oder den Kindergarten zu geben. Die Mutterrolle leidet
darunter nicht. Über ihre Mitwirkungsrechte und -pflichten im Bereich
der Schule informieren wir die Eltern mit Unterstützung der
Selbstorganisationen der Migranten umfassend.
Kann man den Prozentsatz nicht integrationswilliger Zuwanderer
quantifizieren?
Özkan: Verlässliche Zahlen habe ich noch nicht erhalten.
Bundesinnenminister de Maiziere spricht von 10 bis 15 Prozent. Weit
mehr als 75 Prozent aller Zuwanderer sind also integrationswillig.
Wie wollen Sie Ihre Forderung durchsetzen, Kinder mit
Migrationshintergrund früher in KiTas zu schicken?
Özkan: Wir haben in Niedersachsen das letzte KiTa-Jahr kostenfrei
gestellt, um diese Teilhabe zu ermöglichen. Ich setze auf
Freiwilligkeit und Aufklärung. Die Eltern müssen selbst verstehen,
dass sie über die KiTa am meisten für ihre Kinder erreichen können.
Fremdenfeindliche Parteien sind in vielen europäischen Ländern auf
dem Vormarsch. Ist Sarrazin ein Indiz für eine Verschlechterung des
Klimas auch hier?
Özkan: Das müssen sie Parteienforscher fragen. Man muss nicht
immer jede Meinung teilen. Ich empfinde das Klima von politischen
Debatten in Deutschland vor allem als demokratisch, vielseitig und
spannend. Die Menschen in vielen anderen Staaten der Erde würden sich
glücklich schätzen, wenn sie auch ein solches Klima hätten.
Das Interview führte Joachim Zießler
Mit freundlichen Grüßen
Dietlinde Terjung
Nachrichtenredaktion/Politik Telefon +49 (0)4131-740-283 Fax: +49
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