Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 1. Dezember 2010 das Schlichtungsergebnis zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21:
Geschrieben am 30-11-2010 |
Bremen (ots) - Respekt, Heiner Geißler! von Joerg Helge Wagner Wie
schafft man es, Frieden zu stiften, wo ein Kompromiss schier
unmöglich ist? Heiner Geißler, der Schlichter beim umstrittenen
Bahnprojekt Stuttgart 21, hat es uns gezeigt: Indem man sehr viel
Geduld und Grips darauf verwendet, am Ende niemanden als Verlierer
dastehen zu lassen. Das hat der Mann geschafft und dafür gebührt ihm
höchster Respekt. Geißler hat die Minimalvoraussetzung für eine
Schlichtung maximal genutzt: die Gesprächsbereitschaft der
Kontrahenten. Auch wenn klar war, dass er - Attac-Mitglied hin oder
her - das Megaprojekt niemals völlig infrage stellen würde: Seine
hartnäckige, manchmal geradezu unangenehme Befragung der Befürworter
ließ bei den Gegnern niemals den Verdacht aufkommen, hier inszeniere
jemand Überparteilichkeit. Doch da man einen Bahnhof nicht halb
versenken kann und einem Mittelding zwischen Kopf- und
Durchgangsbahnhof die unbarmherzige Logik entgegensteht, musste sich
Geißler am Ende entscheiden. Sein Votum für das Projekt S21 ist aber
mit erheblichen Bedingungen gespickt, und die haben die Gegner - wie
das gesamte Schlichtungsverfahren - ertrotzt. Enttäuschung oder gar
Wut über das Ergebnis wären ebenso unangemessen wie Triumphgeheul auf
Seiten der Bahn und der Landesregierung - was ja auch gestern nicht
zu vernehmen war. Geißler, der Ex-Minister, der langgediente
Top-Parteifunktionär, der spätberufene Globalisierungskritiker, hat
die zwei Herzen in seiner Brust synchron schlagen lassen. Mit der
kühlen Rationalität des Berufspolitikers und Ex-Richters hat er
abgewogen und geurteilt. Das von den Gegnern erarbeitete
Alternativprojekt K 21 - ein umgebauter Kopfbahnhof - wäre zwar
möglich, aber um einen zu hohen Preis: Das komplette neunjährige
Planungsverfahren, das S 21 ja bereits durchlaufen hat, stünde erst
noch bevor - und niemand kann garantieren, dass sich in dessen
Verlauf der von den Initiatoren errechnete Kostenvorteil in Luft
auflöst. Also hat der kritische Kopf Geißler beherzt an den
offensichtlichen Schwächen von S 21 gefeilt, um eine größere
Verträglichkeit zu erreichen. Die freiwerdenden Grundstücke werden
durch ein Stiftungsmodell vor Spekulation geschützt, mehr
Bürgerbeteiligung bei der oberirdischen Folgeplanung ist so auch
garantiert. Unterirdisch wird vor allem die Sicherheit für die
Fahrgäste verbessert. Und auch die alten Bäume - offenbar in
Stuttgart wie in Bremen der mit Abstand sensibelste Aspekt jeglicher
Bauplanung - werden weitestmöglich verschont. Wenn Bahn und Land sich auf Geißlers Spruch einlassen und auch die Details ernst nehmen,
können sie eigentlich nichts mehr falsch machen. Der Ball liegt nun
im Feld der Gegner, die das Schlichtungsverfahren ja
herbeidemonstriert haben. Ihnen bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder
akzeptieren sie zumindest die Tendenz des Spruchs oder sie beharren
auf ihrer Maximalforderung: oben bleiben! Dann aber müssen sie sich
die Frage gefallen lassen, ob ihre eigene Verhandlungsbereitschaft
nicht bloß vorgetäuscht war. Eine Volksabstimmung ist nun - jenseits
aller wohlbegründeten verfassungsrechtlichen Bedenken - absolut
unkalkulierbar geworden. Der hart erarbeitete Spruch des nüchternen
Schwaben Geißler ist im Ländle vermutlich eher mehrheitsfähig als die
Milliarden Euro teure Vollbremsung eines auf künftige Jahrzehnte
angelegten Großprojekts. Mit dem gestrigen Tag finden sich die
sympathieverwöhnten Grünen plötzlich in einer ungewohnten Situation
wieder: Sie müssen sich einer kritischen Öffentlichkeit erklären.
joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
Originaltext: Weser-Kurier
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