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"Auch im Leiden ist Gott uns nah" Karfreitagspredigt des EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider

Geschrieben am 22-04-2011

Hannover (ots) -

Sperrfrist: 22.04.2011 10:30
Bitte beachten Sie, dass diese Meldung erst nach Ablauf der
Sperrfrist zur Veröffentlichung freigegeben ist.

Zu allen Zeiten haben die Menschen sich schwer getan, die
Kreuzigung Jesu zu verstehen, erklärte der Vorsitzende des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider,
in seiner Karfreitagspredigt im Willibrordi-Dom zu Wesel
(Nordrhein-Westfalen). In den Berichten der Evangelien werde
deutlich: "Die Spötter haben nicht begriffen, was doch auch zur
Tradition der Propheten gehört: Jesu Leiden und Sterben am Kreuz
gehört zu Gottes machtvollem Eingreifen in die
Menschheitsgeschichte." Das Kreuz bedeute freien Zugang der Menschen
zu Gott. Gott selbst habe diesen Weg eröffnet, denn er wurde Mensch
und nahm die Begrenztheit menschlicher Existenz bis hin zu seiner
Sterblichkeit an. "Sterben und Tod, selbst der Tod am Kreuz sind
nicht Ausdruck von Gottesferne. Vielmehr gilt: Gerade dort ist Gott
ganz nahe."

Es sei aber eine "teuflische Gefahr für den Glauben", wenn man
Gottesnähe mit Leidfreiheit verwechsele. Auch heute "tun wir uns
immer wieder so unendlich schwer damit, an Gottes Menschennähe und
Menschenliebe zu glauben", sagte Präses Schneider. "Denn wir sehen
doch, wie viel unverschuldetes Leid es auf dieser Erde gibt. Und wir
sehen doch, wie viele Menschen Opfer werden von Unverstand,
Selbstsucht und verbrecherischer Gewalt anderer Menschen." Angesichts
solcher Bilder und Erfahrungen möchte man am liebsten Augen und Ohren
zuhalten, einfach weglaufen oder diese Realität des Lebens "übertönen
durch die Geräusche der Welt". Die Stille eines Feiertages, der die
Kreuzeserfahrung thematisiert, werde so zum Anstoß. "Wie oft bleibt
auch uns Christenmenschen nur der Schrei mit den und für die
Gequälten: 'Mein Gott, warum hast du uns verlassen?!'"

Auch der Ostermorgen lösche diese Kreuzeserfahrungen nicht einfach
aus. "Der Auferstandene wird die Wundmale der Kreuzigung an seinem
Auferstehungsleib tragen. Deshalb können und dürfen wir das Leiden
von Menschen nicht 'kleinreden', auch nicht durch unseren
Auferstehungsglauben. Aber wir müssen und dürfen es auch nicht
verschweigen: Das Kreuz wird nicht das letzte Wort über Christi Leben
haben. Denn Christi Geist ist in Gottes Händen! Und alle Kreuze
dieser Welt werden nicht das letzte Wort über unser Leben haben. Denn
auch wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände!

Hannover, 21. April 2011

Pressestelle der EKD

Silke Römhild

Den Predigttext im Wortlaut finden Sie im Anhang zu dieser Email
oder, nach Ablauf der Sperrfrist, unter
http://www.ekd.de/predigten/schneider/index.html

Achtung, Sperrfrist: Karfreitag, 22. April 2011, 10.30 Uhr Es gilt
das gesprochene Wort!

Präses Nikolaus Schneider

Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD)

Predigt über Lukas 23,33-49 an Karfreitag, 22. April 2011, im
Willibrordi-Dom zu Wesel

Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte,
kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten
und einen zur Linken.

Jesus aber sprach:

Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie
verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand
da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat anderen
geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte
Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und
brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir
selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden
König. Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn
und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da
wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch
nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es
zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen;
dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke
an mich, wenn du in dein Reich kommst!

Und Jesus sprach zu ihm:

Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis
über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor
ihren Schein, und der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei. Und
Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und
als er das gesagt hatte, verschied er. Als aber der Hauptmann sah,
was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein
frommer Mann gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und
zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an die Brust und
kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne,
auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das
alles.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

wir haben eben den Bericht von der Kreuzigung Jesu gehört -
damals, vor fast 2000 Jahren, am Karfreitag in Jerusalem. Die
Dramatik des Tages wird ganz nüchtern erzählt. Wir hören von den
Dialogen am Kreuz. Vom Spott der Eliten wird erzählt und dem der
Soldaten. Das Brauchtum der Henker wird uns nahe gebracht. Gewaltige
Naturereignisse werden geschildert. Wir hören, dass die Seinen von
Ferne dabei waren. Und vom Volk ist zweimal die Rede. Das Volk -

Männer und Frauen,

Menschen aus der Mitte der Gesellschaft und Menschen von ihren
Rändern, Menschen, die ein gutes Auskommen haben und Menschen, die am
Hungertuch nagen, Menschen, die mit Jesus sympathisierten,
Gleichgültige und Menschen, die sich an Jesu Botschaft gestoßen und
geärgert haben - das Volk stand da und sah zu, wie der Gottessohn
gekreuzigt wird. Bei der Kreuzigung bleibt das Volk stumm und lässt
sich zur Kulisse der Machtdemonstration Roms und seiner jüdischen
Partner in Jerusalem machen. Die Menschen sehen zu, wie Jesus nicht
nur gequält, sondern auch noch verspottet wird: "Bist du nicht der
Christus, der Auserwählte Gottes? Hast du nicht so vielen anderen
geholfen? So hilf dir doch jetzt selber!" Die Oberen des Volkes
orientierten sich an der Machtausübung Roms. Sie demonstrierten auf
diese Weise den Verlust ihrer Überzeugungen. Ihr pragmatisches Ziel
hieß: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht." Und damit gaben sie preis,
was vielleicht einige von den Spöttern hinter all ihren
ironisch-spöttischen Bemerkungen noch hofften: ein ganz großes Wunder
"in letzter Minute" möge eintreten. Gott könnte machtvoll eingreifen:
Der Himmel könnte sich auftun und himmlische Heere die Macht der
Römer beenden.

Die Spötter haben nicht begriffen, was doch auch zur Tradition der
Propheten gehört: Jesu Leiden und Sterben am Kreuz gehört zu Gottes
machtvollem Eingreifen in die Menschheitsgeschichte. Der Gottessohn
hilft sich selbst und hilft uns in seinem Leiden und Sterben am
Kreuz! Die Menschen können nicht verstehen, was sie erleben. Die
Menschen sehen zu und nehmen reglos hin, wie mitten am Tag eine
Finsternis über das ganze Land kommt und die Sonne ihren Schein
verliert.

Die Bibelkundigen wissen doch, dass Gottes Schöpfung des Himmels
und der Erde mit seinem Wort beginnt "Es werde Licht" (Gen 1,3); Sie
erinnern sich auch an das Drohwort des Propheten Amos: "Zur selben
Zeit, spricht Gott der HERR, will ich die Sonne am Mittag untergehen
und das Land am hellen Tage finster werden lassen."( Amos 8,9 ).

Jetzt, an dem Tag, da Jesus gekreuzigt wird, hat die Sonne am
Mittag ihren Schein verloren und ist eine Finsternis über das ganze
Land gekommen.

Dieses Erleben könnte schon verstanden werden. Aber die Menschen
haben das Vertrauen in die Botschaften ihrer heiligen Schriften
verloren.

Eigentlich müssten sie laut erklären:

Der da am Kreuz hängt, der da leidet und stirbt, das ist der
Auserwählte Gottes, das ist Gottes geliebter Sohn!

"Und der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei." Der Vorhang im
Tempel verdeckte den heiligsten Teil des heiligen Gebäudes. Der
Vorhang des Tempels verhüllte den Ort, wo der heilige Gott nach dem
Glauben der Menschen Wohnung genommen hatte. Die Menschen sehen,
Jesus stirbt am Kreuz und Gottes Wohnstatt öffnet sich!

Das Leiden und Sterben des Gottessohnes am Kreuz macht den Tempel
zu einem offenen Heiligtum. Das Kreuz bedeutet: Menschen haben einen
freien Zugang zu Gott. Gott selbst hat diesen Zugang eröffnet. Denn
er ist Mensch geworden, hat die Begrenztheit menschlicher Existenz
angenommen, ist der Sterblichkeit nicht ausgewichen. Sterben und Tod,
selbst der Tod am Kreuz sind nicht Ausdruck von Gottesferne. Vielmehr
gilt: Gerade dort ist Gott ganz nahe.

Dieser Zugang zu Gott ist nicht nun nicht mehr exklusiv. Jesus hat
ihn für alle Menschen geöffnet. Und so kommt der erste Lobpreis
Gottes "unter dem Kreuz" von einem römischen Hauptmann, der erkennt:
"Fürwahr", hier stirbt ein frommer Mann! "Und als alles Volk, das
dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an
die Brust und kehrten wieder um."

Hatten diese Menschen angesichts des Leidens und Sterbens Jesu
Christi etwas fundamental Wichtiges verstanden? Hatten sie
verstanden, dass es eine teuflische Gefahr für den Glauben ist, wenn
Gottesnähe mit Leidfreiheit verwechselt wird?

Hatten sie sich an die Messiasverheißung des Propheten Jesaja
erinnert: "Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsere
Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott
geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen
verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt
auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir
geheilt." (Jesaja 53,4f) Hatten sie also verstanden, dass hier jemand
stellvertretend für sie litt und starb? Konnten sie in ihren Herzen
mit dem Übeltäter an Jesu Seite sprechen und beten: "Jesus, gedenke
an mich, wenn du in dein Reich kommst!"?

Und hatten sie verstanden, dass es nicht äußere Erfolge, nicht
Schönheit, Gesundheit und Reichtum und auch nicht militärische Siege
und weltliche Macht sind, die Menschen ein gesegnetes Leben und ein
getrostes Sterben ermöglichen? Hatten sie verstanden, dass der
Gekreuzigte seinen Geist getrost in Gottes Hände befehlen konnte,
weil er sich auch in seinem Leiden und Sterben der Liebe und
Gegenwart des allmächtigen Vaters gewiss war? Und dass er in dieser
Gewissheit selbst am Kreuz seine eigene Menschenliebe und
Menschennähe nicht preisgegeben hatte?

Hat das Volk, das dabei war und zuschaute, das alles verstanden?
Haben die Menschen sich deshalb "an ihre Brust geschlagen" und sind
so traurig und getröstet zugleich umgekehrt? Haben diese Stunden
unter dem Kreuz Christi den Menschen eine Kraftquelle gezeigt und
eröffnet, eigene Kreuzeserfahrungen zu tragen und dabei nicht an
Gottes Liebe und Gottes Gegenwart zu verzweifeln?

Vermutlich war es ganz unterschiedlich: Manche ahnten mehr als sie
wussten. Andere hatten undeutliche Erinnerungen, aber schon deshalb
eine neue gewisse Haltung. Wieder anderen ist ganz klar geworden, was
ihr Erleben der Kreuzigung wirklich bedeutete. Möge es damals für die
Menschen unter dem Kreuz so gewesen sein. Und möge es für uns
Menschen heute so sein, wenn wir jetzt in unserem Gottesdienst das
Leiden und Sterben des Gottessohnes bedenken. Und das Volk stand da
und sah zu, wie Jesus gekreuzigt wurde, es schlug sich an die Brust
und kehrte wieder um - damals, vor fast 2000 Jahren, am Karfreitag in
Jerusalem.

Und wir Menschen heute?

Wir stehen da und müssen sehen, wie Kreuzeserfahrungen Menschen
zerbrechen lassen. Wir sehen, wie Menschen leiden und sterben - an
der gewaltigen Macht der Natur, an großartigen menschlichen
Technologien und an der gewalttätigen Macht anderer Menschen. Wir
sehen die Karfreitage der Menschen in Japan. Wir sehen die
Karfreitage der Menschen in Libyen. Und wir sehen auch die
Karfreitage der Menschen in unserem Land: Die Erfahrung von
Ausgrenzung. Das Erleiden schwerer Krankheiten mit Schmerzen, die
auch die Palliativmedizin nicht endgültig in den Griff bekommt. Die
schmerzhaften Erfahrungen von Sterben und Tod - viel zu schnell oder
viel zu früh.

Auch wir heute tun uns immer wieder neu so unendlich schwer damit,
an Gottes Menschennähe und Menschenliebe zu glauben. Denn wir sehen
doch, wie viel unverschuldetes Leid es auf dieser Erde gibt. Und wir
sehen doch, wie viele Menschen Opfer werden von Unverstand,
Selbstsucht und verbrecherischer Gewalt anderer Menschen. Dass
Menschen darüber von Zweifeln befallen werden oder ihren Glauben
verlieren, ist schon nachvollziehbar.

Wie oft möchten wir angesichts dieser Bilder und dieser
Erfahrungen uns am liebsten unsere Augen und Ohren zuhalten oder
einfach weglaufen von den Golgathas dieser Welt. Oder wir möchten
diese Realität des Lebens einfach ignorieren, übertönen durch die
Geräusche des Alltags.

Dass die Stille eines Feiertages, der Kreuzeserfahrungen
thematisiert, unerträglich und zum Anstoß wird, ist schon
nachvollziehbar.

Wie oft bleibt auch uns Christenmenschen nur der Schrei mit den
und für die Gequälten: "Mein Gott, warum hast du uns verlassen?!".

Dem Leiden standzuhalten - dem eigenen wie dem fremden -, sich im
eigenen Leiden von Gott begleitet zu wissen und "Mit-Leidenschaft" zu
wagen und zu üben, das gehörte und das gehört zum Glauben, Hoffen und
Lieben in der Nachfolge des Gekreuzigten. Den realistischen Blick
behalten für all das unverschuldete und für das von Menschen
verschuldete Leiden auf dieser Weltall dieses Leiden nicht zu
verdrängen, nicht zu beschönigen, nicht zynisch zu werden und nicht
einfach aufzugeben, das gehörte und das gehört zu dem Schwersten, zu
dem "Kreuz" der Nachfolge Jesu Christi. Auch der Ostermorgen löscht
diese Kreuzeserfahrungen nicht einfach aus. Der Auferstandene wird
die Wundmale der Kreuzigung an seinem Auferstehungsleib tragen.
Deshalb können und dürfen wir das Leiden von Menschen nicht
"kleinreden", auch nicht durch unseren Auferstehungsglauben.

Aber wir müssen und dürfen es auch nicht verschweigen: Das Kreuz
wird nicht das letzte Wort über Christi Leben haben. Denn Christi
Geist ist in Gottes Händen!

Und alle Kreuze dieser Welt werden nicht das letzte Wort über
unser Leben haben. Denn auch wir können nicht tiefer fallen als in
Gottes Hände!

Diese Gewissheit ist es, die uns die Kraft schenkt, unter den
Kreuzen dieser Welt leidend und mit-leidend standzuhalten.

Wir können - traurig und getrost zugleich - miteinander weinen und
uns gegenseitig trösten. Wir können uns an unsere Brust schlagen und
in unserer Alltagswelt das uns Menschen-Mögliche tun, um neues Leiden
und neue Kreuze zu verhindern.

Wir können umkehren in unsere Städte und Häuser, zu unseren
Wirkungsstätten und in unsere Familien, um unseren Glauben zu leben
und zu bezeugen.

In einem neuen Kirchenlied klingt das so: "Nun ziehen wir die
Straßen, die unser Herr gegangen. Für uns hat er gelitten, für uns
ist er erstanden! O, Kyrie eleison, wir singen deinen Namen, das
Hosianna. Amen." ( EG 558 )



Pressekontakt:
Evangelische Kirche in Deutschland
Reinhard Mawick
Herrenhäuser Strasse 12
D-30419 Hannover
Telefon: 0511 - 2796 - 269
E-Mail: reinhard.mawick@ekd.de


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