Inklusion mit Augenmaß, aber nicht als Mogelpackung / Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin fordert mehr Teilhabe für Kinder mit hohem Betreuungsbedarf
Geschrieben am 14-07-2011 |
Bremen (ots) - "Inklusion ist möglich." Politische
Absichtserklärungen allein reichen aber längst nicht mehr aus. So
fehlen derzeit ausreichende Mittel zur barrierefreien Gestaltung von
Räumen und vor allem ausreichend qualifiziertes Personal. Ist die
Inklusion also bislang nur eine Mogelpackung?
Diese offenkundige Diskrepanz hat nun die Deutsche Gesellschaft
für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) aufgedeckt. So klaffe
eine beträchtliche Lücke zwischen dem Ziel, Kinder mit besonderem
Betreuungsbedarf in Zukunft besser als bisher an der Gemeinschaft
teilhaben zu lassen, und den Umsetzungsdefiziten vor Ort. In der
UN-Kinderrechtskonvention ist der Anspruch auf Inklusion fest
verankert. Die Umsetzung kann jedoch nur gelingen, wenn alle
Beteiligten ihrer Verantwortung auch tatsächlich gerecht werden",
fordert Dr. Ulrike Horacek, Vorstandsmitglied der DGSPJ. Dies sei
derzeit aber nicht der Fall. Doch auch die Bevölkerung scheint
gespalten. Wie das Meinungsforschungsinstitut Emnid gerade
herausgefunden hat, sprechen sich zwar 88 Prozent dafür aus,
körperbehinderte Schüler inklusiv zu beschulen. Vorbehalte gibt es
hingegen bei geistig behinderten Schülern (56 Prozent) und
verhaltensauffälligen Schülern (53 Prozent).
Für die Leiterin des Kreisgesundheitsamtes Recklinghausen ist die
bisherige Inklusions-Bilanz ernüchternd. Wie weit schulische
Inklusion vorangeschritten ist, wird am besten deutlich, wenn man die
Zahl der Schüler, die im Gemeinsamen Unterricht an allgemein
bildenden Schulen gefördert werden, mit der Anzahl der Kinder an
klassischen "Förderschulen" vergleicht. Die Ständige Konferenz der
Kultusminister in der Bundesrepublik hat dazu nun Zahlen vorgelegt.
Demnach standen über alle Schulformen hinweg im Schuljahr 2009/2010
den knapp 380.000 Schülern in Förderschulen etwa 98.000 integrativ
beschulte Kinder gegenüber. Von diesen haben allein rund 43. 000 den
Förderschwerpunkt "Lernen", wobei allerdings bundesweit nur 3.000 in
die Gesamtschule und rund 10.000 in die Hauptschule gehen.
Zweitstärkste "Integrationsfraktion" stellen die 22.000 Schüler mit
dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung dar, die
knapp zur Hälfte in der Grundschule und zu etwa einem Fünftel in der
Hauptschule betreut werden. Auffällig ist zudem, dass nur etwa 8.000
Kinder von den 98.000 integrativ beschulten Kindern eine
nicht-deutsche Staatsangehörigkeit haben. Damit sind Kinder mit
Migrationshintergrund im Inklusionsprozess weit unterrepräsentiert.
Dr. Helmut Hollmann, Chefarzt des Kinderneurologischen Zentrums
der LVR-Klinik Bonn und Vizepräsident der DGSPJ, fordert daher alle
Eltern auf, sich intensiver als bisher am Inklusionsprozess zu
beteiligen. "Eltern müssen stets voll hinter der Entscheidung stehen,
wie die außerfamiliäre Betreuung gestaltet wird. Dabei müssen sie
aber darauf vertrauen können, dass Kinder mit Entwicklungsstörungen
und Behinderungen jederzeit optimale Hilfestellungen im Kindergarten
und in der Schule erhalten können."
Das ist derzeit nicht der Fall. Um Kinder mit Behinderungen und
chronischen Krankheiten inklusiv zu beschulen, müsse ein nachhaltig
wirkendes Konzept - etwa Angebote in Kleingruppen - greifen. Dies
setzt aber zwingend die Umstrukturierung der Räumlichkeiten, eine
deutlich bessere Personal-Bemessungsgrundlage und die schrittweise
vertiefende Qualifikation der bereits jetzt dort tätigen
Erzieherinnen voraus, ist Hollmann überzeugt. Ulrike Horacek
konkretisiert: "Eine Institution, die den Anspruch hat, inklusiv zu
arbeiten, muss auch Bedingungen erfüllen. Gruppen für ältere Kinder
über drei Jahre im Kindergarten dürfen eine Größe von 15 Kindern
nicht überschreiten. Die Klassengröße in der Schule muss auf 20
beschränkt sein."
Inklusion kann aber nur dann mit Augenmaß umgesetzt werden, wenn
künftig die schulärztliche und sozialpädiatrische Kompetenz gestärkt
wird. Entwicklungsstand und die Bedürfnisse des Kindes bei der
Förderung müssen auch unter medizinischen Gesichtspunkten angemessen
beurteilt werden. Nur so kann die Schule dem einzelnen Kind gerecht
werden, gerade auch bei derzeit noch unzureichenden
Rahmenbedingungen. Dabei geht es zum Beispiel auch um die Frage, ob
und wie intensiv eine Schulassistenz- oder Integrationshelfer in den
Inklusionsprozess eingebunden werden müssen.
Auf lange Sicht muss eine "Schule für alle" genau das für die
jeweiligen Erfordernisse eines Kindes mit besonderem Bedarf
garantieren, was derzeit noch in jedem Einzelfall mühsam organisiert
werden muss. Erst dann kann Inklusion die Teilhabe ermöglichen, von
der viele Kinder heute nur träumen können.
Pressekontakt:
Dr. Ulrike Horacek
Mail: U.horacek@kreis-recklinghausen.de
Dr. Helmut Hollmann
Mail:Helmut.Hollmann@lvr.de
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