BERLINER MORGENPOST: Anders Breivik hat Europa nicht begriffen - Leitartikel
Geschrieben am 30-07-2011 |
Berlin (ots) - Der 32 Jahre alte Mann aus Oslo, dessen Name für
immer der Verachtung anheimgefallen ist, hat mit seinem Massenmord
eine Diskussion über das Abendland Europa anstoßen wollen. Diese
Diskussion wird er bekommen, aber nicht so, wie er sie sich vorstellt
- als Konfrontation zwischen dem Christentum und dem Islam. Er wird
sie bekommen als eine Debatte über den Umstand - den oft belastenden
Umstand! -, dass es für die Beschreibung der heutigen Welt keine
Schwarz-Weiß-Erklärungen gibt. Er wird sie bekommen als
Vergewisserung dessen, dass eine offene Gesellschaft nicht
funktioniert, wenn in ihr starres Gruppendenken herrscht, mit
unverrückbaren Feindbildern oder mit kritiklosen Freundbildern. Er
wird sie bekommen als Diskussion über geistige Toleranz als
Bürgertugend, über Meinungsfreiheit ohne Häme und über die
Verantwortungslosigkeit derer, die der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus
Schneider in Berufung auf Luther den "in sich verkrümmten Menschen"
genannt hat, einen Menschen, der keiner Moral mehr zugänglich ist.
Der geständige Massenmörder von Oslo war in sich verkrümmt; er war
selbstmitleidig und folgerichtig mitleidslos. In seinem Pamphlet
beschreibt er mit kalter Intelligenz ein Zerrbild unseres Kontinents.
Für seine Weltsicht gilt der Satz aus Goethes "Faust": "Er nennt's
Vernunft und braucht's allein, nur tierischer als jedes Tier zu
sein." Das in seiner Perfidie und Grausamkeit singuläre Verbrechen
von Oslo und Utøya wurde durch einen Menschen begangen, der wie Osama
Bin Laden darauf gesetzt hat, dass seine Tat und sein Wort bis in den
letzten Winkel verbreitet würden. Er hielt seine Mitmenschen für
feige Weichlinge, die darum mit seiner Botschaft schon tun würden,
was er sich in dieser Hinsicht von ihnen erwartete. Eine offene
Gesellschaft, die mit der Macht des Wortes gesteuert wird und in der
das freie Wort höchsten Wert hat, für grundsätzlich feige zu halten,
ist einer der Irrtümer, die Menschen wie Anders Breivik zu ihren
Verbrechen bringt. Die offene Gesellschaft ist nicht feige, sie ist
mutig wie kaum eine andere Ordnung vor ihr. Sie vertraut auf die
moralische Vernunft des Einzelnen. Die Gleichheit vor dem Gesetz und
damit füreinander ist die Basis eines Europas, das seit 1945 auf dem
früheren Kriegskontinent allmählich Gestalt annimmt. Der Hass auf
Gruppen, Freund-Feind-Bilder, Abgrenzungsdenken bringen eine solche
Gesellschaft zum Stillstand. Das gilt für das Zusammenleben
insgesamt. Die demokratische Gesellschaft steht und fällt deshalb mit
dem Schwierigsten überhaupt - mit der Offenheit im Kleinsten, mit der
moralischen Ehrlichkeit des Einzelnen gegenüber sich selbst. Bei
dieser Aufgabe hat der Massenmörder versagt. Frei von Fehlern und
Schuld ist niemand, und konstruktiv Gutes bewirkt keiner, der sein
Ziel nur dadurch definieren kann, indem er sich über andere erhebt.
Die Trauer über sein Verbrechen wird mit der Erzählung von Europa als
schöpferischem Akt enden, einem Kontinent, der aus seiner Geschichte
genug gelernt hat, um Hass als politisches Programm im Keim zu
ersticken. Der Täter, der dieses Europa aus dem Geist der antiken
Polis nicht begriffen hat, bleibt von der Debatte ausgeschlossen, und
das Gegenteil seiner Fantasien wird außerhalb seiner Gefängnismauer
Wirklichkeit werden. So ist es den Nazis bereits ergangen, und wenn
es eine gerechte Strafe für Massenmörder geben kann, dann ist dies
Teil von ihr.
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BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
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