Mittelbayerische Zeitung: Das Ende der Tragödie
Leitartikel zum G20-Gipfel in Cannes
Geschrieben am 04-11-2011 |
Regensburg (ots) - Es ist tatsächlich eine griechische Tragödie,
die wir erleben; und das nicht nur, weil der Name passend ist. Die
Europäische Union als Gesamtkonstrukt und der Euroraum im Speziellen
sowie seine Einzelstaaten durchleben derzeit fast fahrplanartig alle
Stufen dessen, was Aristoteles in der Antike als Grundlage der
Tragödie festgelegt hat. Ein ethisch guter Charakter, heißt es dort
sinngemäß, erlebt einen Fall vom Glück ins Unglück - wegen eines
Irrtums, der aus dem fehlenden Wissen über eine Situation resultiert.
Noch Fragen? Noch schöner wird es, wenn man sich den Zweck der
Tragödie bei Aristoteles ansieht: Durch die Handlung soll "Jammern
und Schaudern" ausgelöst werden, um am Ende zu einer "Reinigung" zu
gelangen. Das Jammern und Schaudern sehen wir jetzt jeden Tag. Fragt
sich nur, wie die Reinigung aussehen wird. Klar ist, dass am Ende
eine neue EU dabei herauskommen muss. Das Problem bislang ist
allerdings, dass immer noch nicht die richtigen Schlüsse aus den
ersten Akten der Tragödie gezogen wurden. Die lauten nämlich: Europa
hat versagt. Bei aller Regulierungswut von Glühbirne bis
Metzgereiverordnung, bei allen wasserkopfartig angeschwollenen
Institutionen mit ihren babylonisch anmutenden Bürokratien und den
damit verbundenen Kosten, war es unfähig, die Krise erstens zu
erkennen. Und sie zweitens übergreifend, kompetent, effizient und vor
allem schnell zu bekämpfen. Es waren nicht Brüssel und Straßburg, die
handelten. Es waren Berlin und Paris. Und, nicht zu vergessen,
Lissabon, Madrid, Rom und Athen. Dass dem so ist, liegt am
fundamentalen Konstruktionsfehler dieser EU: Sie ist bei allen
Vergemeinschaftungsbemühungen ein Büro für allgemeine
Verwaltungsaufgaben geblieben. Das Agieren übernahmen weiterhin die
nationalen Regierungen. Wenn die EU etwas entschied, war es oft
unangenehm und die Staaten wiesen schnell die Schuld weit von sich.
Das alles hat einigermaßen reibungslos funktioniert, weil bislang
noch keine existenzbedrohenden Ereignisse aufgetreten sind. Wenn
jetzt aber offen auf höchster Ebene über den Ausstieg Griechenlands
aus dem Euro diskutiert wird, ist das nichts anderes als das
Eingestehen des eigenen Versagens. Die EU steht jetzt an einem
Scheideweg. Sie muss klar sagen, wohin die Reise geht. Und da gibt es
nur zwei Richtungen: Die eine führt zurück zu einer losen Verknüpfung
von Einzelstaaten, wahrscheinlich sogar ohne gemeinsame Währung. Die
andere führt in die Vereinigten Staaten von Europa, wenngleich der
Name anders lauten wird. Es ist irrsinnig zu glauben, dass 27 oder
mehr Staaten miteinander leben und arbeiten können, wobei 17 von
ihnen noch dazu eine gemeinsame Währung haben, wenn eine Kanzlerin
oder ein Präsident in ihrer Entscheidungsfähigkeit auf europäischer
Ebene in jedem Punkt abhängig sind von nationalen Befindlichkeiten -
während in Brüssel und mehr noch in Straßburg Repräsentanten eben
jener Nationen tatenlos zusehen müssen. Das Bundesverfassungsgericht
hat Berlin vorgeschrieben, dass europäische Entscheidungen der
Zustimmung des Bundestags bedürfen. Was hierzulande als Erfolg des
Parlamentarismus gefeiert wurde - die nationale Mitbestimmung - wurde
Griechenland vorgeworfen. Europa wird auch künftig machtlos gegenüber
Krisen sein, wenn es weiter seinem bisherigen Motto folgt: Wenn es
gut läuft, machen wir es zusammen, wenn nicht, entscheidet jeder für
sich. Wir brauchen in zukunfts- und existenzentscheidenden Bereichen
wie der Wirtschafts- und Finanzpolitik eine gemeinsame
Regierungsinstanz; vielleicht sollte sie den bestehenden Strukturen
aus Kommission und Parlament übertragen werden. Wir brauchen dazu
auch den Mut, die Bürger zu befragen, ob sie das wollen oder nicht.
Denn das ist ihr gutes Recht. Die Staaten der EU haben schon viel zu
lange mutlos agiert. Und dabei zugelassen, dass keine anderen Themen
als die Krise mehr wirklich angegangen werden. Die vielen verpassten
Chancen auf dem G20-Gipfel sind dafür nur ein Beleg.
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