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PERSÖNLICHKEIT DES JAHRES ANGELA MERKEL /Eine Laudatio von Gabor Steingart, Chefredakteur vom Handelsblatt

Geschrieben am 23-12-2011

Hamburg (ots) -

Der Merkel-Moment

Warum die deutsche Bundeskanzlerin blieb, wie sie immer war - und
gerade dadurch in einer Zeit des Misstrauens Vertrauen schaffte.

Von Gabor Steingart

Ginge es hier um Angela Merkel, die CDU-Vorsitzende und
Innenpolitikerin, müsste den Laudator bereits an dieser Stelle die
Schreiblähmung befallen. Was gäbe es da zu laudatieren?

Zu Hause hat Angela Merkel nichts Nennenswertes zuwege gebracht.
An der Reform der Sozial- und Steuersysteme, die ihr großes
Versprechen und ihre historische Mission war, ist sie nicht
gescheitert. Sie hat diese Reform nicht mal probiert. Sie ist eine
Zauderliese. Sie weiß, was nottut. Aber sie fürchtet die Mehrheit
derer, die es nicht wissen.

In der Europapolitik blicken wir auf dieselbe Frau, aber in
anderer Beleuchtung. Das Virus der großen Krise, der vom
Immobilienmarkt der USA zu uns hinüberwehte, um erst die Banken und
dann die Staaten zu infizieren, hat uns empfindlich gemacht gegen
Veränderungen aller Art. Veränderungen passieren, aber wir wollen sie
nicht mehr. In Zeiten, wo ganze Staaten rauf und runter bewertet
werden wie früher die Schweinehälften auf dem Wochenmarkt, wo
Finanzmärkte geflutet und Krisengipfel in Permanenz veranstaltet
werden, unterscheidet sich Merkels Zaudern wohltuend von der
Alarmistik der anderen. Nicht sie, aber unsere Wahrnehmung von ihr
hat sich verschoben: Zaudert sie noch, oder steht sie schon?

Es ist die Kraft der Bedächtigkeit, die sie nun verkörpert. Das
Wappentier ihrer Kanzlerschaft könnte die Schildkröte sein. Das
Imposanteste an diesem Panzertier ist seine Fähigkeit, immer da zu
sein. Die Schildkröte war vor den Dinosauriern auf der Welt und blieb
da, als der Tyrannosaurus Rex schon im Völkerkundemuseum verschwunden
war.

Auch Angela Merkel ist einfach da, stur und stoisch und
selbstbewusst. Schildkrötengleich bewegt sie sich durch ein Gelände,
das feindlicher kaum sein kann. Der eigene Präsident ist ein
Schnorrer, aber eine Hilfe ist er ihr nicht. Der Koalitionspartner
macht ebenfalls keine gute Figur. Kanzler Kiesinger konnte sich auf
Brandt stützen, Brandt auf Scheel, Schmidt auf Genscher, Kohl auch
auf Genscher, derweil Merkel den eigenen Außenminister mitschleppen
muss, bis dass sein politischer Tod die beiden scheidet. An keinem
einzigen Tag ihrer gemeinsamen Regierungszeit ist Guido Westerwelle
seiner Kanzlerin eine Stütze gewesen.

Auch die öffentliche Stimmung ist alles andere als freundlich, was
nicht an ihr, sondern an der Angst ums liebe Geld liegt. Die
Deutschen lieben eine harte Währung mehr als ihren Partner. Mit dem
Ersparten wollen sie alt werden, mit dem Partner - ausweislich der
einschlägigen Scheidungsstatistiken - haben sie nicht zwingend den
gleichen Plan. Das Stabilitäts-Gen der Deutschen hat Merkels
politischen Spielraum auf Schlitzgröße eingeengt.

Die Finanzmärkte mit der ganzen Wucht ihrer Irrationalität kommen
noch hinzu. Die Amerikaner führen einen nicht erklärten Währungskrieg
gegen Euro-Land. Ihre Cruise Missile heißt Moody's. Die moderne
Neutronenbombe ist der Hochfrequenzhandel der Wall Street, der den
hiesigen Aktiengesellschaften und Staaten über Nacht Milliarden
entzog, bis das Haus Europa wackelig wie ein Kartenhaus in der
Landschaft stand.

Auch international war ihr kein Partner vergönnt, mit dem man sich
blicken lassen könnte. Die Amerikaner hängen an der Schuldenflasche.
Dem Italiener Berlusconi hat der Herrgott da, wo andere ein Gehirn
besitzen, einen Samenstrang verlegt. Das Brüsseler Bürokratenkabinett
des José Manuel Barroso, dessen Kreativität sich darin erschöpft,
nach Euro-Bonds zu rufen, ist angetan, dem gutwilligsten Deutschen
die europäische Idee zu verleiden.

Womit wir wieder beim eigentlichen Verdienst der Angela Merkel
gelandet wären: Sie bleibt stehen. Die anderen sind aufgeregt, sie
ist stur. Die anderen rauschen heran, sie kommt. Die anderen machen
Show, sie macht Politik. Die einen sprechen von Europa und meinen
neue Schulden. Sie spricht von Europa und pocht auf eine
Schuldenbremse für alle. Ihr Antrieb ist kein europäischer Traum,
sondern ein europäischer Alptraum, der vom Zerfall dessen handelt,
was Jean Monnet, Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Helmut Schmidt,
Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Kohl vor ihr aufgebaut haben.

Der knappste Rohstoff im Europa dieser Tage ist Vertrauen.
Vertrauen in den Fortbestand des Euros, Vertrauen in die
Funktionsfähigkeit des Bankensystems, Vertrauen in die Fähigkeiten
der politischen Elite, beides zu erhalten. Das ist für eine
Gesellschaft gefährlich, denn, wie Niklas Luhmann herausgearbeitet
hat, bildet "Vertrauen in das Vertrauen" das Fundament unserer
Ordnung.

Wir wissen, dass, wenn alle gleichzeitig zur Bank rennen, um ihr
Geld abzuheben, nicht genug Geld für alle da sein wird. Wir vertrauen
darauf, dass das nie passiert. Wir wissen, dass die Polizei nicht für
Gesetzestreue sorgen kann, wenn auch nur ein namhafter Prozentsatz
der Bürger beschließt, die Gesetze zu missachten. Wir vertrauen
darauf, dass das nie geschieht. Dieses Vertrauen in das Vertrauen
nennt Luhmann "Systemvertrauen".

Im Zuge der Mehrfachkrisen ist uns dieses Systemvertrauen
abhandengekommen. In ganz Europa ist heute das Misstrauen systemisch.
Wir wissen, dass, wenn alle zur Bank rennen, nicht genügend Geld da
ist. Und halten das plötzlich für denkbar. Wir glauben weiter an
Europa, aber des Nachts kommen Zweifel, ob dieser Glaube noch
gerechtfertigt ist. Vertrauen kann sich schnell in Misstrauen
verwandeln. Der umgekehrte Weg dauert länger.

Da nun kommt Angela Merkel ins Spiel. Sie verkörpert diesen
knappen Rohstoff Vertrauen. Je weniger wir den anderen zutrauen - den
Griechen, den Amerikanern, den Banken, der FDP, dem Bundespräsidenten
-, desto mehr vertrauen wir ihr. Oder anders gesagt: Wir trauen ihr
nicht zu, dass sie uns verrät. Da kann Sarkozy noch so charmant,
Berlusconi noch so plump, Barroso noch so nervtötend sein. Das System
Merkel steht stabil. Die Welt ist sprunghaft. Diese Frau ist es
nicht. Sie besitzt kein Pathos, aber starke Nerven.

Sie ist Europäerin, aber mit Verstand. Sie will den Euro retten,
aber nicht um jeden Preis. Sie fördert die Europäische Union, ist
aber nicht bereit, dafür den Nationalstaat zu verraten. Sie will
Reformen, aber nur damit alles bleibt, wie es ist. Sie verkörpert das
Beste, was wir uns von der Zukunft derzeit erhoffen: Stabilität und
Normalität.

So kommt es, dass die Deutschen ihr Vertrauen nicht verloren, nur
umgeschichtet haben: von den entzauberten Gewissheiten der
Vorkrisenzeit - Banken sind sicher, der Euro ist stabil, Europa ist
unumkehrbar - zu Merkel. "A man meets the moment", würden die
Amerikaner sagen, wobei "Mann" hier mit Merkel übersetzt werden muss.

Der Merkel-Moment lässt sie im neuen Licht erstrahlen. Schön sieht
sie plötzlich aus, wie sie so unerschrocken von Gipfel zu Gipfel
stapft. Sie hat noch nicht den Euro stabilisiert, aber immerhin schon
unsere Erwartungen. Die Deutschen sind weiter angespannt, aber nicht
mehr verzweifelt.

Es ist beeindruckend zu sehen, wie sie nun den anderen
Regierungschefs und - wichtiger noch - deren Völkern ihre Grammatik
beibringt. Schuldenbremse, Eigenverantwortung, Strafe.

Sie hat sich mit dem Zeitgeist verbündet. Wer sich ihr und ihm
verweigert - wie es der griechische Premier, der spanische
Ministerpräsident und der Papagallo in Rom zuletzt versucht haben -,
wurde von den eigenen Wählern weggepustet. Die neuen Regierungschefs
in Spanien, Italien und Griechenland sprechen ihre Sprache.

Man ist sogar bereit, neue Verträge mit ihr abzuschließen.
Verträge, in denen eine Schuldenbremse installiert wird, in denen der
Schuldensünder das nationale Budgetrecht verwirkt, in denen der
Europäische Gerichtshof zur neuen Macht wird, weil nicht mehr nur
eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, sondern auch ein einzelner
europäischer Staat ihn anrufen darf. Das alte Einstimmigkeitsrecht,
das immer das Recht der Sünder zur Sünde war, wird abgeschafft.

Das Ganze sei sehr deutsch, hält man ihr seitens der Opposition
vor. Das stimmt. Aber ein bisschen mehr Deutschland ist das Beste,
was Europa derzeit passieren kann. Merkels Deutschland will andere
nicht beherrschen, nur stabilisieren. Das deutsche und das
europäische Interesse fallen in diesen turbulenten Tagen zusammen.
Darin liegt das historische Glück des Merkel-Moments.

Möge ihr der Ehrentitel als "Person des Jahres 2011" nicht nur
Freude und Bestätigung, sondern vor allem Verpflichtung sein. Am
besten auch für die Innenpolitik.



Pressekontakt:
Literatur- und Pressebüro Politycki & Partner, Birgit Politycki,
bp@politycki-patner.de, (49) 040-430 9315 - 12, 0175-4309 333),
Schulweg 16, 20259 Hamburg


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